Hirtenleben unter Kalksteinplatten

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von Christoph Markl-Meider

Auf den Spuren der archaischen Architektur des Apennins

Wir waren am Morgen in Decontra, einem kleinen Dorf auf der Hochebene westlich der Majelletta, aufgebrochen und hatten zunächst noch ein Stück offenes Bauernland überquert, bevor wir hinab in die Schlucht zum Valle Santo Spirito steigen konnten. Dort, dem Lauf des wenigen Flusswassers folgend und in engen Felswänden steigend, waren wir bald auf die uralte Einsiedelei des heiligen Bartolomeo gestoßen. Der einsame Ort ist alljährlich im August das Ziel einer langen Prozession von Gläubigen, die die Statue des Heiligen hinabtragen, um hier gemeinsam dessen Festtag zu begehen. Und auch uns flößte die an den Fels geschmiegte, unter einem natürlichen Vorsprung liegende Eremitage in ihrer schlichten Schönheit und bizarren Lage eine gewisse Ehrfurcht ein.

Bald aber hatten wir die enge Kartause verlassen, um auf der anderen Seite der Schlucht wieder auf die runden Hänge des jetzt steinigeren Hochlandes unterhalb des Majella-Massivs zu gelangen. Immer schwieriger wurde es zu unterscheiden, was von dieser Landschaft noch ursprüngliche Natur und was davon schon von Menschenhand gestaltet war. Vielleicht fielen uns deshalb auch die massigen Steinhaufen am Fuße eines kegelspitz herausragenden Felsmassivs, das wir gerade umkreist hatten, im ersten Moment gar nicht richtig auf. Wie an den Berg gewachsen, so rankten sie sich um den grauen, zum Teil bewachsenen Fels.

Dann aber nahmen unsere Augen bald wahr, dass diese Ansammlung roher Steine nichts Zufälliges an sich hatte. Nein, wir hatten die Colle della Civita erreicht, jenen Landstrich, der nach den ihn prägenden Lesesteinhäusern benannt ist: runde, einfache Kuppelbauten aus losen Kalkplatten, in Gruppen aneinander gereiht und von Trockensteinmauern begrenzt. Ein befremdender Anblick einer bislang unbekannten Architektur: nicht Haus und nicht Höhle, nicht Burg und nicht Bauernhof - und doch alles zugleich. Wie Ruinen aus grauer Vorzeit wirkend und manche davon erst wenige Jahrzehnte alt - so auch die sich jetzt vor uns ausbreitende Stadt aus Steinen der "Colle Civita", die 1940 von dem Bauern Giuseppe Parete errichtet worden war. Wir näherten uns den aus abertausenden von Steinen aufgeschlichteten Bauten mit aller Vorsicht, um die filigrane Statik nicht unnötig auf die Probe zu stellen, aber auch mit großem Respekt: Wie hart musste das Leben gewesen sein, das sich innerhalb dieser kalten und finsteren Mauern führen ließ? Wie sehr musste man vom Schicksal gebeugt sein, um sich in dem engen und niederen Gemäuer bewegen zu können? So drangen wir - manchmal auf allen Vieren kriechend - nicht nur immer weiter in das verzweigte System aus Gängen und Gewölben ein, sondern gleichzeitig auch in die untergegangene Kultur der "spontanen Architektur" der Bauern und Hirten in den Abruzzen.

Rund 300 Jahre lang war diese gepflegt worden, um sich und den Tieren auf den offenen Bergweiden Schutz vor Räubern und Raubtieren, aber auch vor Wind und Wetter zu bieten. Eine typische Anlage bestand dabei aus einer Anordnung von drei "capanne", von denen zwei als Unterkunft für die Hirten bestimmt waren und eine als Melkkammer diente. Eine hohe Einfriedung schloss die Herde nachts ein, der Eingang war mit einer Türe aus rauem Holz und viel dornigem Reisig versperrt.

Wir aber hatten auf der anderen Seite des dunklen Steinlabyrinths wieder einen offenen Ausgang gefunden, der Sonnenlicht und Wärme versprach. Jetzt saßen wir nur wenige hundert Meter von der verlassenen Hirtensiedlung entfernt auf der Anhöhe der Colle dell Astoro - hinter uns das zweieinhalbtausend Meter hohe, sich wie der Rücken eines Walfisches darbietende Majella-Bergmassiv, vor uns die sanftrunden, aber steingespickten Buckel der Hochebene, die talwärts in eine üppige Kulturlandschaft abfällt, bevor sich gegenüber auf der anderen Seite des Horizonts wieder ein neues Gebirge auftut.

Es war Nachmittag geworden und wir machten Rast von den überraschenden Erkundungen einer für uns neuen Art alter Architektur. Die Schafe, die uns am Morgen eine ganze Weile begleitet hatten, zogen jetzt mit ihrem Hirten und zwei großen weißen Schäferhunden genau unseren Blicken folgend abwärts in Richtung des Dorfes Roccamorice. Im gleißenden Sonnenlicht schien es fast, als hätte sich da nicht nur eine Schafherde in Bewegung gesetzt, sondern einer der vor uns liegenden Steinhügel selbst, so gleichmäßig und gleichförmig, so stetig und stur hielten die felsfarbenen Tiere ihren Kurs - bergauf und bergab, immer weiter dem Abend entgegen.

Obwohl vielleicht erst eine Viertelstunde vergangen war, wirkte die Szene, als hätte sie schon eine kleine Ewigkeit gedauert: Die Herde war kaum noch zu sehen, so rasch und weit war sie wie in schwerelosem Gleiten über Stein und Zeit vorangekommen. Doch Ewigkeit ist ein gewagtes Wort in einer Welt, in der sich die Menschen noch vor wenigen Jahrzehnten in unendlicher Mühsal aus nichts als Kraft und Stein Trutzburgen bauen mussten, um zumindest das Überleben für den nächsten Tag zu sichern. In einer Welt also, in der die Aussicht auf das ewige Leben manchmal vielleicht nur mit einem Herz aus Stein zu ertragen war.


Von Christoph Markl-Meider
Erschienen in: Münchner Merkur, 16. März 2004