Die Frau mit den Roten Händen

Die Erfindung einer Geschichte nach einer wahren Begebenheit

Der Ausgangspunkt und Anlass 
Herbert Grabe, Erde und Wind:
   Es war am ersten Abend in Cáceres, im Restaurant ›Torre de Sande‹. Wir wählten den Wein zum Abendessen, ich entschied mich für eine Flasche, auf dessen Etikett eine Schafherde, ein Schäfer und eine Felslandschaft abgebildet war. Das Design sagte mir zu, zudem mag ich die Rebensorte Tempranillo. Der Genuss entsprach den Erwartungen. So lobte ich den Wein, der Kellner freute sich und antwortete: 
   »Das ist schön, doch Sie sollten wissen, dass Sie von diesem Winzer keinen Wein der letzten Ernte bekommen können. Nur jenen 2022er, den Sie gerade trinken.« Er blickte in unsere rätselhaften Mienen und klärte auf: Die Reben des letzten Herbstes seien geerntet, die Trauben gepresst, der Wein in große Fässer abgefüllt worden, doch dann ereignete sich etwas kaum Begreifliches. Als die Arbeiter eines Morgens das Fasslager betraten, waren die Fässer des Jahrgang 2023 leer, der Wein ausgelaufen. 
   Was war geschehen? Die Nachforschungen ergaben, dass sich eine Frau auf das Gelände des Weinguts begeben und die Hähne geöffnet hatte. Warum sei nicht klar, zumindest wisse er nicht viel mehr darüber.
Wir hatten unser Thema, das sich bald verselbstständigte. Warum öffnet jemand die Fässer eines Weinguts? Wer war die Täterin? Warum tat sie das? Wie wurde sie gefunden? Welche Erkenntnisse brachten die Verhöre? Was geschieht mit der Frau? Was geht das Weingut damit um? Auf der Webseite des Weinguts wird darüber nichts verlautbart. 
   Die Idee kam auf, eine Geschichte zu schreiben, die den Faden aufnimmt und weiter spinnt, einen kleinen Wettbewerb auszurufen. 
Hier sind die Ergebnisse.

Ich wünsche Ihnen anregende Lesefreude und danke allen Mitwirkenden!

Zu den Texten (bitte jeweils anklicken):
Die Frau mit den roten Händen von Christine Leitl
La novia con las manos rojas von Hermann Scheuerer-Englisch
Die Frau mit den roten Händen von Ulla Nickel
Die Frau mit den roten Händen von Klaus Kuchlmaier
Die Frau mit den roten Händen von Davide Feroce
Bacalhau und der verlorene Wein von Irmgard Silberbaur

Die Texte wurden in der Reihenfolge ihres Eingangs eingestellt.

Hinweis: Alle Rechte liegen bei den Autor:innen. Kopie und Verbreitung ohne Genehmigung des Autors oder der Autorin nicht gestattet.


Die Frau mit den roten Händen

von Christine Leitl

„Was genau haben Sie gesehen, Señor Luis?“ Langsam wird der Kommissar ungeduldig und reibt sich den Dreitagebart. „Äh, es ging alles so schnell. Ich wollte den neuen Tempranillo kosten, schon am Kellereingang roch es stark nach Wein. Das ist bei einem Winzer nicht ungewöhnlich, aber …“
„Was, aber?“, knurrt der Kommissar, und denkt, nun komm schon, rede endlich, ich will Feierabend machen. 
Señor Luis rückt seine dicke Brille zurecht, der Beamte runzelt die Stirn. 
„Ich habe eine Frau gesehen, sie trug ein Kopftuch.“
„Welche Farbe? Die Größe der Frau? Schlank, korpulent, welches Alter?“ Señor Luis verzieht das runzelige Gesicht, er fühlt sich in die Enge getrieben und überfordert durch die vielen Fragen. 
„Ich glaube … groß und schlank.“ „War sie im Weinkeller, als Sie ihn betraten?“ Wild gestikuliert der junge Beamte, er wird immer ungeduldiger, weil er dem Señor Luis jedes Wort einzeln entlocken muss.
„Nein, nein, sie lief an der Hauswand entlang, weg vom Weingut.“
„Haben Sie gesehen, ob sie Handschuhe trug?“ 
„Sie rannte ziemlich schnell und streckte die Arme seitlich aus, als wolle sie fliegen.“
„Und dann?“ Das Verhör stresst den jungen Kommissar. Señor Luis atmet hörbar ein und aus und scheint endlich das Geheimnis zu lösen. „Dann war sie weg.“ Artig bedankt sich Kommissar Miqel, macht sich ein paar Notizen in seinem Block und läuft kopfschüttelnd auf das imposante Herrenhaus zu.

Er läutet an der Tür. Lange dauert es, bis er auf der anderen Seite ein Geräusch vernimmt. Vorsichtig wird die Tür einen Spalt breit geöffnet. Die kleine Tochter des Winzers, Eliana, schaut ihn neugierig an. Da kommt auch schon der Hausherr mit schlurfenden Schritten. 
„Ah, Sie sind’s, Herr Kommissar. Haben Sie inzwischen neue Erkenntnisse gewonnen?“ 
„Leider nein. Könnte es sich um einen Racheakt handeln oder glauben Sie an ein Versehen?“
Heftig schüttelt der Winzer mit dem Kopf und lacht bitter. „Ha, ha, ha, mein Lieber, alle Fässer waren mit Hähnen verschlossen. Ein Versehen könnte an einem Fass passieren, dann würde der Hahn allenfalls tropfen – aber dass alle Fässer leer sind, das kann nur ein bösartiger Racheakt sein.“

„Nehmen Sie es mir nicht übel, aber - haben Sie Feinde? Kann es sein, dass ein anderer Winzer in Ihrer Nachbarschaft neidisch ist auf ihren Erfolg? Schließlich hatten Sie im vergangenen Jahr mit dem dunkelroten Tempranillo eine Goldmedaille von ‚Mundus Vini‘ verliehen bekommen.“
„Ach wissen Sie, Neider gibt es überall. Aber dass jemand so weit geht, meine komplette Ernte zu vernichten, das kann ich mir nicht vorstellen. – Oh, entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Es dauert ein bisschen, denn meine Haushälterin Clara ist nicht mehr bei uns.“ Fahrig legt er ein paar Schriftstücke, die verstreut auf dem Tisch liegen, zusammen. „Ich mache uns schnell eine Kanne Kaffee,“ ruft er dem Kommissar zu und wendet sich ab.
„Die hübsche junge Frau hat gekündigt? Das ist schade. Ich muss also auch in dieser Richtung ermitteln. -  Warum hat sie gekündigt? Käme sie als Täterin infrage?“
Der Winzer schließt die Zimmertür und schaut sich suchend im Raum um. „Ich habe ihr gekündigt. Meine Frau wollte sie nicht mehr hier bei uns im Haus haben.“ 
„Ja, Ehefrauen könnten eifersüchtig werden, wenn eine andere hübsche Frau in der Nähe ist. Darf ich Ihnen eine sehr persönliche Frage stellen? Hatten Sie – hm - ein Verhältnis mit der jungen Angestellten? Könnte das ein Racheakt von ihr wegen der Kündigung sein? Es wurde eine Frau gesehen, das steht fest.“

Blass und zusammengesunken sitzt der Hausherr am Tisch. „Clara war schwanger.“ „Oh je! Doch nicht von Ihnen?“ Fast unmerklich nickt der Winzer. Schnell notiert der Kommissar, was er soeben gehört hat, auf seinem Block. „Señor Luis sah eine Frau mit schnellen Schritten den Keller verlassen. Kennt er sie?“
„Ja, selbstverständlich. Aber Luis, dieser alte Geizhals, bräuchte schon seit Jahren eine stärkere Brille . Außerdem lebt Clara seit einigen Wochen in der Schweiz bei ihrem Bruder. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich in der Nähe unseres Weingutes aufgehalten hat.

Nachdenklich blättert der Kommissar in seinen Notizen und bemerkt: „Man kann sich wohl auf seine Beobachtungen nicht wirklich verlassen. Meinen Sie das so?“ Der Winzer nickt.
„Gab es in der jüngsten Vergangenheit Ärger mit einem ihrer Arbeiter? Haben Sie jemanden entlassen?“
„Ja, das gab es auch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Emilio Gonzales etwas damit zu tun hat. Träge war er und nicht für diesen Beruf geeignet.“ „Sollte ich ihn trotzdem befragen? Vielleicht ist er nicht gut auf Sie zu sprechen – und Sie wissen es nicht.“
„Ach Herr Kommissar, Emilio Gonzales arbeitet nun für unseren Herrn Pfarrer, er läutet die Glocken und hält die Kirche in Ordnung. Ein Gottesmann tut so etwas nicht. Da bin ich ganz sicher.“

Trotzdem verlangt der Polizist die Adresse und fährt zu dem kleinen Häuschen neben der Kirche. Laut klopft er mehrmals an die Haustür, bis sich schnelle Schritte von innen nähern. Mit den Ellbogen öffnet Frau Gonzales die Tür von innen. Ihre dunkelrot verfärbten Hände hält sie in die Höhe. Weit aufgerissen sind ihre dunklen Augen. Selbstbewusst schaut sie den Mann des Gesetzes an. „Bitte denken Sie nicht, dass ich die gesuchte Frau bin. Mittlerweile spricht es sich im Dorf herum, was passiert ist. Ich bin es nicht.“
„Frau Gonzales, Sie haben es gehört, dass wir eine Frau mit roten Händen suchen, die alle Hähne der Weinfässer beim Winzer aufgedreht haben soll. Ihre Hände sind rot!!“

„Kommen Sie mit in die Scheune, mein Herr, dort zeige ich Ihnen, warum ich rote Hände habe.“ Sie dreht sich um und läuft aufrecht über den Hof zur Scheune. In mehreren Kübeln steht eine rote Brühe.
„Daher“, sie deutet auf die Behälter, „kommen meine roten Hände. Ich färbe die Wolle von unseren Schafen mit dem Saft der Roten Beete und verkaufe sie auf dem Markt. Glauben Sie mir jetzt?“
„Ich denke schon, dass dies eine plausible Erklärung sein könnte …“ Nachdenklich zieht er seinen Notizblock hervor und schreibt alles auf, bevor er sich bedankt und geht.
Einen weiteren heißen Tipp bekommt er noch auf dem Weg zurück ins Dorf. Eine Alte, mit nur wenigen Zähnen im Mund und einem Kopftuch über dem schütteren Haar, winkt ihm aufgeregt zu. Emilio, ein junger Trunkenbold sei auch am Abend des Verbrechens laut singend und schwankend durch den Ort gelaufen.
Vielleicht sei er, der immerzu durstig ist, der Übeltäter, der den Wein abgezapft und die Hähne nicht wieder verschlossen habe. Der Polizist winkt ab. Ganz sicher ist er, denn für ihn kommt Emilio als Verursacher der Überschwemmung nicht infrage. Ein Weinfass hätte ihm genügt, seinen unbändigen Durst zu stillen.
Erschöpft von den vielen Verhören und Gesprächen setzt sich der Kommissar in der Nähe auf eine Mauer und überprüft noch einmal seine Notizen. Er rauft sich die lockigen Haare und stöhnt. Wenn er nur wüsste, wer der Täter ist.

Nicht weit entfernt spielen im Hof der Familie Gonzales ein paar Buben vor einem Indianerzelt. 
Wortfetzen dringen zu ihm herüber. „Wir dürfen niemandem etwas erzählen, schwört alle!“, ruft ein etwa siebenjähriger Knirps. Genau erklärt er den anderen, dass sie Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der rechten Hand in die Höhe strecken müssen.
„Und die Handflächen müssen zu mir zeigen“, ergänzt er noch seine Beschreibung des Eides. 

Nachdem sich alle im Kreis um ihn herum aufgestellt haben, beginnt er zu sprechen:
„Niemand darf erfahren, dass wir die Hähne aufgedreht haben. Niemand darf erfahren, dass Frau Gonzales, also meine Mama, uns dabei entdeckt und schnell nach Hause geschickt hat. Versprochen hat sie, zu schweigen – wie ein Grab.

Und sehr altklug ergänzt der Kleine noch mit hochgezogenen Schultern: „Schuld hat eigentlich mein Papa, der nach seiner Entlassung gesagt hat, am liebsten würde er alle Hähne der Weinfässer aufdrehen. Und weil er sich nicht getraut hat, haben wir das für ihn erledigt.“

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La novia con las manos rojas

von Hermann Scheuerer-Englisch

„Die Frau mit den roten Händen heiratet“, titelte die Lokalzeitung. So wurde sie genannt, nachdem sie den Wein der gesamten Ernte aus den Fässern hatte laufen lassen. Ihre roten Hände hatten sie verraten.
Sie lächelte beim Lesen der Schlagzeile, weil sie sich daran erinnerte, wie sie ihm im Weinberg den ersten Kuss gegeben hatte.
„Ach, könnte unsere Liebe so groß werden, dass sie alles überflutet, so wie der rote Wein und die darin geborgene Sonne uns am Abend durchströmt, wenn wir ihn trinken“, hatte er geflüstert und sie um ein Zeichen ihrer dauernden Zuneigung gebeten. Er arbeitete auf dem verarmten Nachbargut.
Sie hatte auch gelächelt, als sie im Weinkeller ein Fass nach dem anderen öffnete, der rote Wein über ihre Hände rann und der Geist des Weins ihr Liebesverlangen ins Unendliche steigerte. 
Sein Weingut würde im kommenden Jahr sehr gut verkaufen können. 
Und sie hörte schon die Hochzeitsglocken läuten.

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Die Frau mit den roten Händen

von Ulla Nickel

Die 23iger Beeren waren die besten seit langem gewesen. Klein, prall und dunkelrot hatten sie kurz vor der Lese in dicken Trauben die Zweige der Rebstöcke fast zu Boden gezwungen. Ein Anblick, den Antonio liebte, wenn er morgens in aller Frühe seine tägliche Runde zwischen den Weinstöcken drehte. Hier und da zupfte er eine Beere, bewegte sie sanft im Mund hin und her und erwartete mit geschlossenen Augen andächtig den Moment, wenn die feste Schale brach und der Saft kühl und süß sein unverkennbar fruchtiges Aroma entwickelte. Heute sollte der 23iger Tempranillo abgefüllt werden! 
Antonio stand fassungslos inmitten der langsam kleiner werdenden roten Pfütze, die sich fast über den ganzen Hof ausgedehnt haben musste, um schließlich auf dem abschüssigen Gelände als kleiner Bach hinunter ins Tal zu fließen und in den Rändern des angrenzenden Weinbergs zu versickern. Er hatte auch jetzt die Augen geschlossen. Tränen bahnten sich ihren Weg durch die geschlossenen Lider. „Antonio“, schrie mit heiserer Stimme sein Kellermeister über die Köpfe der Arbeiter hinweg, die laut lamentierend zwischen ihnen standen, „es ist nichts mehr zu retten!  Alle Fässer sind leer!“  Augenblicklich verstummten die Männer, um Sekunden später mit anschwellender Lautstärke ihr Lamento fortzusetzten. Wie konnte das geschehen? Keines der Fässer ist beschädigt! Wer war zuletzt im Lager? Hat jemand die Hähne kontrolliert? Wer hat das Fasslager abgeschlossen? Wer war als letzter auf dem Hof? Hat jemand jemanden gesehen? Wir müssen die Policía holen! Sie muss Spuren suchen! Wo denn, in den Weinpfützen? Jeder von uns hat schon die Türschlösser und die Fasshähne angefasst und eine Menge Spuren hinterlassen?
So ging es eine Weile hin und her und durcheinander. Am Ende blieb es dabei: Jemand hatte die Tür zum Fasslager öffnen können, alle Hähne aufgedreht und sich davon gemacht. So muss es gewesen sein! Aber wer tat so etwas und warum? Und wie ist er hineingekommen in das Fasslager? „Es ist ein Albtraum!“, murmelte Antonio entsetzt vor sich hin. Doch auch nach nochmaligem Überprüfen der Türen, der Fässer, der Hähne fand sich nicht der kleinste Hinweis und niemand hatte jemanden gesehen. Und keiner konnte sich jemanden vorstellen, der der Täter hätte sein können. Auch dabei blieb es. 
Als es schon später Vormittag geworden war, so lange hatte das Palaver auf dem Hof gedauert, versammelte Antonio mit ernster Miene seine Männer um sich. „Es hilft nichts, wir müssen dieser Tatsache ins Auge sehen! Kein Wein, kein Geld, keine Medaille, kein großes Essen usw. Ihr wisst schon!“ Jetzt hatten auch die Männer und der Kellermeister Tränen in den Augen. Und bedeutungsvoll fuhr Antonio fort: „Wir werden sehr viel Arbeit haben, denn der neue Wein wächst bereits heran. Und wir werden ihn bewachen, wenn er in den Fässern ist! Aber eines erbitte ich jetzt von euch“, fuhr er beschwörend fort, „haltet die Augen und Ohren offen. Jeder noch so kleine Hinweis kann helfen, diesen Bastardo zu finden!“ Die Männer stimmten mit heftigem Kopfnicken zu. „Wenn ihr mithelft, ihn zu finden, wird es ein Fest geben, das verspreche ich euch!“ „Bravo Jefe, bravo!“ schallte es mit Entschlossenheit aus der Runde.  Dann gingen sie an ihre Arbeit, noch heftiger palavernd als zuvor, putzten die leeren Fässer, kehrten den Hof und folgten mit traurigen Blicken den Überresten des Tempranillo 2023, der nun als sehr schmal gewordenes Rinnsal davon tröpfelte. 
Antonios Frau, Señora Luisa, war von dem Geschrei aufgeweckt worden. Sie stand schon eine Weile am Fenster ihrer Cocina, von wo aus sie mit wachsamem Blick das Spektakel vor ihren Augen sortierte. Sie hörte und sah den Kellermeister aufgeregt schreien und gestikulieren. Und dann erblickte sie ihren Mann. Er stand, mit Tränen in den Augen, inmitten einer zusehends kleiner werdenden Rotweinpfütze, umgeben von seinen Leuten. Antonio konnte sehr emotional sein, wenn es um seinen geliebten Wein ging. Sein Anblick tat auch ihr in der Seele weh. Sie seufzte leise. Doch schnell hatte sie sich wieder gefangen. Was sie beobachtete, war eine wirtschaftliche Katastrophe. Dessen war Señora Luisa sicher. Aber so war es jetzt und alles Gejammere würde daran nichts ändern. Schwungvoll drehte sie dem Geschehen den Rücken zu und ging rasch ins Büro. Ihre Aufgabe war jetzt, den finanziellen Verlust zu überschlagen und in Zahlen zu fassen. Er war groß, aber nicht vernichtend. Einen Moment überlegte sie, ob sie die Policía einschalten sollte. Aber das wäre Antonios Aufgabe und nicht ihre! Besser wäre vielleicht die Versicherung. Aber was sollte sie melden? So, wie es aussah, gäbe es viel Papierkram und am Ende würde die Versicherung wegen Eigenverschuldens nicht zahlen oder im schlimmsten Fall sogar Versicherungsbetrug unterstellen. Soweit sollte es nicht kommen. 
Señora Luisa, Finanzchefin des Weingutes, galt als eine erfahrene Geschäftsfrau, die so schnell nichts aus der Ruhe bringen konnte. Antonio war der kreative Kopf des Unternehmens, Winzer mit Leib und Seele. Dank seiner außergewöhnlichen olfaktorischen Begabung gelangen ihm immer wieder überraschende Weinkreationen. Vor allem aber galt sein Tempranillo als einer der besten des Landes. Das bezeugten die zahlreichen Goldmedaillen, die die Wände des Fasskellers schmückten. Manchmal beneidete Luisa sogar die Trauben um die zärtliche Zugewandtheit, die Antonio ihnen entgegenbrachte, leider immer seltener auch ihr. Es waren Gedanken, die sie anflogen wie lästige Fliegen und sie gipfelten nicht selten in eifersüchtige Spekulationen über andere Frauen in Antonios Leben.  Allerdings war jetzt der falsche Zeitpunkt weiter darüber zu sinnieren, stellte Señora Luisa nüchtern fest und wischte schnell eine kleine Träne weg. Die Prioritäten hatten sich soeben wieder einmal verschoben. Es galt, ihren Betrieb aus dieser Katastrophe wieder in die schwarzen Zahlen zu bringen und dort zu halten. Das war die Hauptsache. Dann würde sie weitersehen. 
Antonio, den die Señora an diesem Unglückstag nur kurz zu Gesicht bekam, nahm ihre Überlegungen kommentarlos und geistesabwesend zur Kenntnis. Er war mit seinen Gedanken beim Wein. Mit düsterer Miene und einem flüchtigen Kuss auf ihre Stirn verließ er Luisas Büro und verschwand wieder im Fasskeller.
In der folgenden Nacht tat Antonio kein Auge zu. Wie war es möglich, dass jemand die Tür zum Fasskeller öffnen konnte, ohne Kenntnis der Schließanlage. Als Dauerschleife kreisten seine Gedanken um diese Frage.  Dazu gesellte sich eine Reihe, am Ende doch nicht in Frage kommender Verdächtiger. Es wurde schon hell, als er sich müde und niedergeschlagen aus dem Bett quälte. Geräuschlos streifte er Hemd und Hose über und einem inneren Zwang folgend trottete er in Richtung Weinberg davon. Vielleicht fand er doch einen Hinweis, eine Spur vielleicht, die ihn weiterbringen könnte. 
Antonio war schon eine Weile ziellos zwischen den Rebstöcken herumgeirrt, als er eine Gestalt gewahr wurde. So leise wie möglich schlich er sich näher und erkannte zu seiner Enttäuschung den alten Mateo, einen Freund seines verstorbenen Vaters. Er kauerte auf dem Stein, der genau auf der Kreuzung der Zufahrt zum Gutshof lag. Bestimmt konnte Mateo mal wieder nicht schlafen, aber Antonio hatte jetzt keine Lust auf ein Pläuschchen. Zu spät! „Antonio“, krächzte der Alte, „ich wollte nicht so früh zu euch kommen, umso besser, dass ich dich sehe. Das ganze Dorf ist schon informiert über diese schreckliche Tat, und gestern Abend haben wir alle überlegt, wer diese üble Canalla, dieser Cerdo sein könnte. Es fielen Namen, aber keiner deiner Männern, das kann ich beschwören. Und die Genannten kommen nicht in Frage, weil … wie hätten sie in das Fasslager kommen können, ohne die Zahlenkombination?“
„Ich sage dir etwas anderes …!“ Jetzt flüsterte Mateo und bevor er weitersprach versicherte er sich, dass kein ungebetener Lauscher in der Nähe die Ohren spitzte. „Und das kam nämlich gestern Abend auch auf. Es ist ein paar Jahre her, seit es geschah. Das war in Salamanca. Die gesamten Fässer eines Winzers waren auf unerklärliche Weise in der Nacht vor der Abfüllung ausgelaufen. Es gab keine Beschädigungen an den Fässern, noch an den Türen zum Fasskeller, noch am Eingangstor. Aber ein alter Schäfer, dessen Schafe beim Weinberg auf einer Wiese standen, lag in der Nähe des besagten Weingutes unter einem Baum. Der Schäfer gab vor, eine Gestalt gesehen zu haben, eine weibliche, wie er später dem Winzer erzählte. Sie sei schmal und nicht sehr groß gewesen und ihre Hände waren dunkelrot. Sie sei mit dem talwärts strömenden Rotwein den Berg hinuntergekommen und dann zwischen den Weinstöcken verschwunden. Zunächst hätte er, der Schäfer, sich furchtbar erschrocken und an einen Mord geglaubt, wegen der roten Hände der Gestalt, und sich versteckt. Aber dann sah er, dass es kein Blut war, sondern Rotwein. Er sei dann so schnell er konnte zu dem Winzer gelaufen. Alle Arbeiter suchten anschließend über Stunden und Tage nach der Gestalt, hätten aber sie, die Gestalt, aber nie gefunden!“ 
„Ach Mateo, das sind doch alte Geschichten, die sich jemand ausgedacht hat. Davor geschah so etwas ähnliches doch schon in verschiedenen Weingegenden“, unterbrach Antonio ihn unwirsch. „Vielleicht wollte jemand die Versicherung übers Ohr hauen mit so einer Story!“ Aber Mateo fuhr unbeirrt fort. „Antonio, ich war noch nicht fertig!“ Bedeutungsvoll senkte Mateo erneut seine Stimme. „Vielleicht weißt du das nicht, aber in Salamanca ist der Fall aufgeklärt worden. Es war die ehemalige Geliebte des Winzers, die aus Rache, weil er, der Winzer, seine Frau nicht wegen ihr, der Geliebten, verlassen hatte, die ihm daraufhin dieses Ding gedreht hat. Sie, die Geliebte, ging in den Knast und die Frau des Winzers hat ihn, den Winzer, rausgeschmissen. Ihr gehörte das Weingut! Ich sag’s dir, wenn’s um Liebe geht, vor allem um verschmähte Liebe, sind Frauen unberechenbar und von einer unerwarteten Schlauheit!“  Antonio warf dem Alten einen sehr bösen Blick zu.  „Und was hat das mit mir zu tun“, fuhr er mit beißender Stimme Mateo an. „Reg dich ab, mein Junge“, antwortete Mateo beschwichtigend. „Ich kenne dich seit deinem ersten Schrei. Lass dir das einfach mal durch den Kopf gehen und vergiss nicht, dabei einen Blick auf deine Vergangenheit zu werfen!“ Jetzt hatte es Antonio wahrhaftig die Sprache verschlagen. Mühsam erhob sich Mateo. Der kalte Stein und das unbequeme Hocken hatten seinen alten Knochen nicht gutgetan. „Wenn ich dir helfen kann, lass es mich wissen“, rief er Antonio noch zu, drehte er sich um und schlurfte ins Dorf hinab.
Antonio stand eine Weile gedankenversunken und schaute Mateo nach. Er hätte ihn fragen sollen, was genau er meinte. Aber nun war der schon aus seinem Blickfeld entschwunden. Und ja, da hatte es einmal einen heißen Flirt gegeben, erinnerte sich Antonio plötzlich. Aber die Flamme war schnell erloschen und er war sicher, dass niemand davon wusste und vor allem Luisa es nicht einmal bemerkt hatte. Aber wer weiß. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Und mit einem Mal gewann ein ganz neuer Gedanke die Oberhand. Was, wenn Luisa von dieser Affaire wusste und diese Geschichte aus Salamanca kannte, von der Mateo erzählt hatte. Und wenn Luisa die Fässer geöffnet hatte? Ihm brach der kalte Schweiß aus. Denn nun fiel ihm auch ihre kühle Zurückhaltung auf und die Nüchternheit, mit der sie den Verlust des Weines und damit ihres Einkommens eines kompletten Tempranillo Jahrgangs hingenommen hatte. Wut stieg in ihm hoch. Er musste Luisa zur Rede stellen, sofort. Seine Schritte beschleunigten sich. Doch plötzlich blieb er stehen. Aber was würde es bringen, zu wissen, ob Luisa es war? Der Wein würde dadurch nicht wieder zurück in die Fässer laufen. Möglicherweise aber eine andere, noch viel größere und schmerzhaftere Katastrophe für ihn geschehen. Während seine Schritte langsamer wurden, beruhigte Antonio sich. Er musste nachdenken und das konnte er am besten im Fasskeller. Ungesehen verschwand er darin und öffnete die letzte Flasche des 22iger Tempranillo. Schon nach dem ersten Schluck, den er geräuschvoll schlürfte und kaute und damit seine düsteren Grübeleien zerkaute, löste sich nach mehreren weiteren Schlucken allmählich seine ganze Angespanntheit. Dann verließ er seinen Rückzugsort.
Als Antonio das Haus betrat, hörte er Luisa im Büro telefonieren und blieb lauschend an der Tür stehen. „Ja, ich werde es ihm sagen, sobald er kommt!“ hörte er sie sagen. Dann war es still. Antonios Herz pochte zum zweiten Mal an diesem Tag so heftig, dass er es in seinen Ohren hören konnte. Luisa stand mit dem Rücken zur Tür und schien über etwas nachzudenken. Als Antonio sie mit leiser Stimme fragte: „Was musst du mir sagen?“ erschrak Luisa heftig, drehte sich um und sah mit Entsetzen in Antonios Gesicht. Die Spuren der Tempranillo-Katastrophe waren deutlich in sein Gesicht geschrieben. Er sah verzweifelt und müde aus. Sie hielt Antonio das Telefon. Antonio ergriff einem Impuls folgend ihre Hand und hielt sie fest. „Luisa“, sagte er leise und mit belegter Stimme, „lass uns heute Abend einmal miteinander reden, bitte. Das haben wir schon lange nicht mehr gemacht. Es waren immer die Arbeit und das Geschäft, die im Vordergrund standen. Aber jetzt, wo der Tempranillo 23 nicht abgefüllt werden kann, weil er nicht mehr da ist, du keine Rechnungen schreiben musst und vor allem niemand weiß, wer dieser Bastardo war, der die Fässer geöffnet hat, und ich es auch nicht mehr wissen will, haben wir doch endlich Zeit füreinander. Was denkst du?“ Luisa schaute Antonio ungläubig an. Was war in ihn gefahren? Verwirrt antwortete sie „Ja, das ist eine gute Idee! Aber bitte ruf José erst an!“ Plötzlich war Antonios Müdigkeit verflogen. Er nahm das Telefon und wählte Josés Nummer. „José, was gibt’s?“, hörte Luisa ihn fragen. Für einen kurzen Moment war es still. „Das ist die beste Nachricht des Tages. Danke, José!“ rief Antonio froh gestimmt und von einer leichten Tempranillo-Note umweht.
„Der Tempranillo 2024 steht hervorragend. Wir werden eine gute Ernte haben, Luisa, vorausgesetzt dass keine Frau ihre roten Hände im Spiel hat!“ Luisa errötete lächelnd. 

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Die Frau mit den roten Händen

von Klaus Kuchlmaier

Mein Name ist Antonio Ruiz, geboren am 15. Juni 1972 in Cáceres, Extremadura, Spanien, wohnhaft in Cáceres, Familienstand verwitwet, ein Sohn mit 24 Jahren. Ich arbeite als Comisario bei der Policia Nacional in Cáceres.
Diese Geschichte schreibe ich nieder als Comisario, als Bürger, als Vater und als Mensch, dem die Augen geöffnet wurden. Bitte verzeihen Sie mir meine nüchterne Erzählweise, aber die vielen Polizeiberichte haben meinen Schreibstil nachhaltig geprägt. Trotzdem empfehle ich Ihnen: „Halten Sie sich gut fest, denn alle was Sie nun lesen werden ist wahr. Die Fakten sind unstrittig, die Aussagen kommen aus den verschrifteten Vernehmungen und die Vernehmungen habe ich selbst durchgeführt. Erst die Schlussfolgerungen, die ich aus der Zusammenschau aller Fakten gezogen habe sind auf meinem Mist gewachsen, aber Sie werden es bemerken – diese Folgerungen sind ebenso zwingend wie die Wahrheit selbst!

Es begann am 13. Dezember 2023 um 6:30 Uhr. Der Inhaber des Weingutes Marqués meldete telefonisch einen unglaublichen Akt von Vandalismus. Jemand habe sämtliche Tanks seines Kellers geöffnet. Alle Behältnisse seien restlos leergelaufen, die gesamte Ernte 2022 überschwemme nun seine Keller und seinen Hof. Er sei ruiniert.
Wir fuhren zu zweit hinaus. Meinen Kollegen nenne ich der Einfachheit halber Miguel. Miguel fuhr den Wagen, ich sah mir die herrliche Landschaft an. Zwar bin ich in dieser Gegend geboren und hier auch aufgewachsen, dennoch fasziniert sie mich ein ums andere Mal von neuem.
Nach 45 Minuten trafen wir am Weingut ein. Der Inhaber, Enrique Marqués empfing uns am Tor seines Hofes. Ich hatte gedacht, er würde vor Wut schäumen, aber das tat er nicht – Enrique sah aus wie ein gebrochener Mann!
Wir begrüßten uns und er ließ es sich trotz seiner Niedergeschlagenheit nicht nehmen, uns die Katastrophe höchstpersönlich zu zeigen.
Er bot uns Plastiküberzieher für die Schuhe an und wir nahmen sie dankend an. Diese Kondome retteten am Ende unsere Schuhe! Im Keller stand der Wein nämlich noch knöchelhoch, weil der Abfluss für so eine Katastrophe nicht gebaut war. Die Wucht des Tempranillo-Geruchs nahm mir fast den Atem.
„Sind die Fässer auch leer, oder nur die Stahltanks?“, fragte ich.
„Die Stahltanks sind restlos leer, und bei den Fässern nur die, die am Boden stehen. Alle Regalfässer sind unberührt. Zum Glück, denn da drin lagern unsere großen Gewächse!“, antwortete Enrique. 
Bei den Stahltanks konnte ich erkennen, dass immer beide Abläufe offenstanden, auch der Restablauf und bei den Eichenfässern hatten die Täter die Pfropfen aus den Spundlöchern entfernt. 
Enrique sah mir meine Frage an und sagte: „Wir haben einen der Pfropfen gefunden, er ist völlig unbeschädigt. Seltsam, man müsste wenigstens die Spuren einer Zange sehen, aber da ist nichts!“
„Habt ihr Überwachungskameras irgendwo?“, wollte ich wissen und er antwortete: „Comisario, wir sind hier auf dem Land! Wir ziehen nicht einmal die Schlüssel von den Fahrzeugen ab!“
„Ja, ich kenne das! Meine Eltern haben in ihrem ganzen Leben keine Haustür abgesperrt! Ich schau mich noch ein bisschen um, wenn’s recht ist?“
„Alles steht Ihnen offen. Tun Sie so als wären Sie hier zu Hause!“

Ich lief zunächst ziemlich planlos herum. 
„Wie mein Hund früher“, dachte ich kurz, „aber der hat wenigsten alles gefunden, was er gesucht hat!“ 
Die Spurensicherung würde ich nicht bekommen, weil es weder Verletzte, geschweige denn Tote gab, also schickte ich Miguel links um das Gut herum, und ich ging rechtsherum. 
Nach 50 Metern gab es einen Durchlass in der alten Bruchsteinmauer – und da saß sie!
Ich wusste sofort, dass diese Frau die Tat begangen hatte, denn ihre beiden Hände besaßen bis hinauf zu den Ellenbogen die dunkelrote, fast blaue Farbe des Tempranillos.
Nur langsam konnte ich den Blick von diesen Händen abwenden und dann sah ich mir die Frau an – die ganze Frau! 
„Wie eine griechische Göttin!“, war mein erster Gedanke. Er ist es bis heute!
Mittelgroß, ein Gesicht wie eine orientalische Göttin, Augen so tief wie der Ozean, graue Haare, streng nach hinten gebunden, gewandet in einer Art Tunika, im Grunde reinweiß, jetzt aber übersät mit dunkelroten Weinflecken. 
Sie sah mich an und lächelte ernst. Ich weiß, das beißt sich ein bisschen, aber sie lächelte, als ob sie gerade ein Kind geboren hätte. 
„Sie müsste mein Alter haben“, dachte ich und fragte sie geradeheraus: „Warst du das?“
Ihre Antwort bestand aus einem sanften Nicken.
„Wie heißt du?“, fragte ich sie, aber sie sah mich nur freundlich an.
„Du musst auf jeden Fall mit uns kommen und eine Aussage machen, sonst müssen wir dich einsperren, verstehst du?“
Statt einer Antwort stand sie auf und strich sich ihren Umhang glatt.  

Bevor ich Ihnen das Befragungsprotokoll zeige, muss ich noch schnell ein paar Informationen loswerden.
Punkt eins: Wir fanden nichts über sie heraus: Fingerabdrücke, negativ! Genomvergleich mit allen Datenbanken, negativ! Genomvergleich international, 80 Prozent Übereinstimmung mit Kleinasien! Gesichtserkennung mit allen Datenbanken, negativ. Medizinisch ermitteltes Alter 50, plus minus 5 Jahre. Körperliche Besonderheiten, gut ausgebildete Muskulatur und kerngesund.

Jetzt zur Vernehmung!
Verschriftete Vernehmung von Täter (T) durch Comisario Ruiz (CR):
CR: Bitte machen Sie Angaben zu ihrer Person: Name, Alter, gültige Anschrift
T: Keine Angaben
CR: Verstehen Sie mich? Können Sie mich hören?
T: Ja. Ja.
CR: Also nochmal: Name, Alter, Wohnort
T: Erneut keine Angaben
CR: So geht das nicht! Sie müssen kooperieren, sonst wird Ihre Strafe dramatisch!
T: Ich kooperiere! Aber keinen Namen, kein Alter, keinen Wohnort – nur die Tat!
CR: Wie soll ich Sie ansprechen?
T: Nenne mich Sol!
CR: Na gut, Sol, haben Sie den Wein von Enrique Marqués auslaufen lassen?
T: Ja!
CR: Hat Ihnen jemand dabei geholfen?
T: Nein!
CR: Und wieso haben Sie das gemacht?
T: Die Fische mussten sterben!
CR: Die Fische mussten sterben?
T: Keine Antwort.
CR: Damit kann ich nichts anfangen! In den Tanks gab es keine Fische! Fische leben nicht im Wein!
T: Der gesamte Zyklus der Präzession dauert 25.920 Jahre. Alle 2.160 beginnt eine neue Phase, zwölf an der Zahl. Jede neue Phase kann sich nur entwickeln, wenn die alte ausgelöscht wird. Mithras hat den Stier getötet, Kaifas den Widder und ich die Fische. Nur so kann der Wassermann die Welt retten!
CR: Das verstehe ich alles nicht! Können Sie mir das näher erklären?
T: Nein! Alles liegt jetzt in der Hand der Menschen. Der Wassermann ist mächtig! Wenn die Menschen ihm mit Aufrichtigkeit begegnen, wird die Welt gesunden. Wenn sie weiter die Lüge bevorzugen, wird die Welt die Menschheit vernichten! Alles ist gesagt, ich bedanke mich für die Wahrheit in dir!

Inoffiziell: Die Frau gab mir danach ein Zeichen, das Aufnahmegerät abzuschalten und ich tat es. 
„Du kannst mithelfen, die Menschheit zu retten, Antonio!“, begann sie. Woher wusste sie meinen Namen? „Die Welt wird bestehen bleiben, aber die Menschen werden sich am Ende gegenseitig auffressen. Nutze deine Möglichkeiten und säe den Samen der Wahrheit aus, wo immer du kannst. Mithras, Kaifas und ich haben jeweils einen Zyklus beendet, indem wir ihn symbolisch getötet haben. Die Symbolik besteht in der Farbe ‚Rot‘! Das Stierblut, das Widderblut – beide rot! Das Fischblut ist zu dünn, zu wenig rot. Deswegen habe ich den Wein gewählt. Er hat die richtige Farbe und in diesem wichtigen Fall gab es ihn auch in großer Menge. Sag bitte Enrique, dass dieses Opfer notwendig war und die Menschheit ihm vielleicht einmal dankbar ist. Wenn du, Antonio, alles getan hast, damit den Menschen eine echte Wahlmöglichkeit zwischen Wahrheit und Lüge zur Verfügung steht, hole ich dich in unsere Gemeinschaft. Ich erscheine in deinen Träumen und zeige dir, wo du hinmusst. Aber bis dahin liegt noch ein weiter Weg vor dir. Beschreite ihn mit all dem Mut und der Aufrichtigkeit, die ich in dir spüre, dann werden wir uns wiedersehen und die Menschheit bei ihrer Genesung beobachten.“
Das waren die letzten Worte, die ich, oder irgendeine andere Person von ihr zu hören bekam.

Am nächsten Tag wollte ich sie mit einem schönen Frühstück nochmals in Gesprächslaune bringen, aber da war niemand mehr in der Zelle!
Wie sich durch die Überwachungsbilder belegen ließ, hatte sie in der Nacht um Hilfe gerufen und den ankommenden Beamten am Arm berührt. Daraufhin hatte der Mann die Zellentür aufgesperrt, die Frau freundlich zu seinem Fahrzeug begleitet, den Funk und die Ortsbestimmung deaktiviert und sie anschließend sogar chauffiert. Es gibt keine Bilder, keine Fahrdaten und auch keine Erinnerungen des Beamten, nur auf dem Kilometerzähler standen 124 Kilometer mehr als das Fahrtenbuch auswies.

Meine Neugier, mein Ehrgeiz und ein weiteres Gefühl, das ich nicht benennen kann, trieben mich nun an. Der Mithras Kult zog mich in seinen Bann. Er hatte seinen Ursprung in Kleinasien!!! Sieben Initiationsstufen mussten seine Anhänger durchlaufen, alle verschafften ihnen große und geheimnisvolle Fähigkeiten. Ein Mithras Krieger zum Beispiel galt als schier unbesiegbar, es gab nichts, was er nicht bewirken konnte. 
„Wahrscheinlich kann er sogar mit bloßen Händen einen Pfropfen aus einem Spundloch ziehen!“, dachte ich und schmunzelte dabei.
Der Kult nahm jedoch keine Frauen auf. Spur versiegt!

Nicht so der Sonnenkult! Sol begrüßte die Frauen indem er die Mondgottheit Luna zur Partnerin nahm. „Nenne mich Sol!“, hatte die Frau bei der Vernehmung gesagt!
Die erste geschichtliche Erwähnung des Kults stammt aus der Zeit von Christi Geburt. Im Sol-Luna-Kult gab es drei Initiationsstufen: Wachstum und Stärke, Aufrichtigkeit und Wahrheit, Ausstrahlung und Übergang. Keine dieser Stufen ist irgendwo näher beschrieben, scheinbar haben die Jünger des Kults sie stets bei sich behalten. So gern hätte ich die Frau mit den roten Händen danach gefragt. 
Aber letztendlich war es egal. Ich hatte einen Auftrag und den übernahm ich auch – allerdings nicht allein! Ich rief meinen Sohn Fernando zu Hilfe.
Fernando studierte in Madrid Mathematik und Physik – nicht für das Lehramt, sondern für die wissenschaftliche Forschung. Fernando ist nämlich ein Genie. Aber wie bei allen Genies wohnt auch bei ihm der Wahnsinn gleich in der Nachbarschaft.
Fernando und mich hatte der tödliche Verkehrsunfall meiner Frau vor dreizehn Jahren eng zusammengeschweißt. Wir hatten unsere Probleme miteinander, aber unsere Liebe zueinander überwand immer alle Schwierigkeiten.
Ich besuchte ihn in Madrid.
Wir gingen im Retiro-Park spazieren und ich wollte ihn langsam in meine Sache involvieren – aber nicht mit Fernando!
„Papá! Du hast den weiten Weg nicht auf dich genommen, um mit mir ein bisschen Smalltalk zu machen. Komm bitte zur Sache! Ich bin ein Wissenschaftler und Wissenschaftler sind immer neugierig!“, fuhr er mir in die Parade.
„Na gut, dann sehen wir mal, was der Herr Wissenschaftler zu folgenden Vorgängen zu sagen hat“, fütterte ich seinen Forscherdrang und erzählte ihm die gesamte Geschichte – inclusive der inoffiziellen Teile und meiner eigenen Nachforschungen.
Er unterbrach mich kein einziges Mal dabei. Wohlgemerkt, der Mathematiker und Physiker, hörte sich diese spirituelle Geschichte von A bis Z an und gab nicht ein einziges Mal seinen Senf dazu.
„Ich könnte dabei etwas Hilfe gebrauchen – besonders deine Hilfe!“, fügte ich am Ende noch hinzu.
Statt einer Antwort nahm er sein Smartphone zur Hand und begann darauf herum zu tippen. 
Nach einer Weile murmelte er: „Genau am 13. Dezember 2023 gab es einen Kipppunkt in der Präzession der Erdachse, den ersten dieser Art seit 2.160 Jahren! Wenn das stimmt, was du…“
„Fernando! Ich bin nicht gekommen, um dich in ein dubioses Abenteuer hinein zu lotsen. Ich werde diesen Weg beschreiten, weil ich einhundertprozentig von seiner Wahrheit und seiner Wichtigkeit überzeugt bin! Also zweifle nicht an dem was ich sage!“
„So habe ich das nicht gemeint Papá“, rechtfertigte er sich. „Das ist nur so ein Placebo Satz, damit ich Zeit zum Nachdenken bekomme. Ich bin interessiert, sehr sogar! Was soll ich tun?“
„Wir brauchen erstens eine Art Thesenpapier, auf dem wir zeigen, was die Menschheit wirklich braucht. Und zweitens müssen wir diese Thesen auch wirkungsvoll verbreiten. Ein Kirchenportal reicht heutzutage nicht mehr, wir brauchen eine Social-Media-Aktion, die ihresgleichen sucht, nicht mehr, aber auch nicht weniger!“

Ich werde das Thesenpapier hier nicht zur Sprache bringen, und auch nicht die Kampagne meines Sohnes, die mit Hilfe einer bekannten Bloggerin weltweit großen Anklang fand. Ich möchte nur noch andeuten, wie es mit mir und der Frau mit den roten Händen weiterging.
Bei der Polizei ließ man mich nicht mehr allzu lange in Ruhe, weil ich in meinem Thesenpapier natürlich auch alle Anführer der Weltmächte an den Pranger gestellt hatte. Trumps alternative Fakten, gehörten dabei genauso dazu, wie Putins grüne Männchen und Xis Lüge von der abtrünnigen Provinz Taiwan. Ich wusste schon vorher, dass mir derartige politische Äußerungen nicht erlaubt waren und so nahm ich das Angebot eines vorzeitigen Ruhestands bei 75 Prozent meiner Ruhestandsbezüge an und zog mich zurück. Bei meiner Verabschiedung ließ ich es dann aber nochmal krachen und klärte meine Vorgesetzten über die Bedeutung wahrer Aussagen auf.
„Unsere Seele kennt immer die Wahrheit!“, rief ich ihnen zu. „Auch wenn unser Mund etwas anderes erzählt, die Seele weiß immer was wirklich stimmt. Aber sie leidet unter der Diskrepanz zwischen ihrer Wahrheit und den Lügen aus unserem Mund. Das macht sie auf Dauer krank! Und wenn ihr wissen wollt, wie krank Seelen dabei werden können, dann seht euch die Herrscher unserer Weltmächte an. Und jetzt kennt ihr sogar den Grund für ihren Irrsinn!“

Ich kämpfte noch eine Weile für die Wahrheit, hielt kleinere Vorträge, aber in Wirklichkeit konnte ich nichts Neues mehr erzählen. Die Menschen hatten sich zu sehr an die vielen Lügen gewöhnt und lebten mit ihnen mittlerweile Tür an Tür.

Drei Jahre später träumte ich von einer extrem wilden Schlucht mit einem tosenden Wildbach darin – der Bach führte rotes Wasser!
Ich besuchte meinen Sohn und seine Familie und verabschiedete mich für unbestimmte Zeit, jedoch gab ich ihnen das Versprechen, weiter auf sie aufzupassen.

Eine Woche danach stand ich an der Straße nach Valle de la Vera und hielt den wenigen Autos, die in meine Richtung fuhren den Daumen entgegen. Mit ein bisschen Glück würde ich heute noch ankommen, würde einmal übernachten und morgen in die Jaranda-Schlucht hinuntersteigen. Als äußeres Zeichen meiner guten Laune verwendete ich den Rest meine Flasche Tempranillo und rieb mir die Hände damit ein.
Ich freute mich wie ein kleines Kind auf den nächsten Tag. Ach, was sage ich, ich freute mich wie ein Gott auf die nächsten 2.160 Jahre!

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Die Frau mit den roten Händen

von Davide Feroce

   »Weißt du«, sagte sie, »ich war in Mexiko. Längere Jahre. Mir ging ständig das Buch im Kopf herum, das in eurer Wohngemeinschaft lag. Dein Freund und Mitbewohner – hieß er nicht Josef? – verehrte diesen Carlos Castañeda, der es geschrieben hat, sehr. Jedenfalls kaufte ich mir das Buch.« 
   »Es hieß: ›Die Lehren des Don Juan‹, nicht wahr?« fragte ich. »Ein Kultbuch der damaligen Zeit. Für bestimmte Kreise.« 
   »Ja, genau. Ich las alles, was ich von Castañeda kriegen konnte und ließ mich anstecken. Was er schrieb, fasste mich an. Es war die Zeit, in der esoterische Gedanken von vielen Leuten aufgenommen wurden. Bewusstseinserweiternde Pilze, effektive Nutzung der Lebensenergie, Schamanen, Zauberer und all diese Dinge«.?
   Ich hatte Marian seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Damals in Amberg war sie oft zu uns in die Wohnung gekommen, griff nach einer unserer Gitarren und fing an zu singen. Ihr langen Haare, ihre Art, sich Zigaretten zu drehen und vor allem, ihre Art zu sprechen, hatten mir gefallen. Ich mochte es, wenn sie da war, aber ich scheute es, mich in sie zu verlieben. Wahrscheinlich deswegen, weil sie unnahbar war. Sie klingelte, stieg die Treppe herauf, stand in der Türe, sah durch mich hindurch und trat ein. Ihre Selbstsicherheit irritierte mich. Sie setze sie sich hin, rauchte und erzählte von ihrem Job. Sie bekam keine finanzielle Unterstützung von ihren Eltern, also arbeitete sie am Wochenende. Sie putzte im Krankenhaus der Bundeswehr. 
   »Ich wollte nach dem Abitur nicht gleich arbeiten, erst verreisen. Ursprünglich hatte ich vor, nach Asien zu gehen, nach Indien. Mir Varanasi ansehen. Den Ganges und seine Ursprünge im Himalaya«.
   »Ich erinnere mich gut daran. Du brachtest einen Bildband über Nepal mit. Das war ungewöhnlich. Meist waren es Freunde, Männer eben, die solche Pläne hatten. Es waren Männer, die nach Afghanistan und nach Persien fuhren.«
   »Ach was. Ich war auf meinen Reisen nie alleine. Immer mit anderen Frauen unterwegs, wir waren viele. Ein paar Tage, oder sagen wir, fünfhundert Kilometer mit dem Zug mit dieser, dann eine Woche mit jener neuen Bekannten. Niemand wollte für sich unterwegs sein. Manchmal, wenn der Typ vertrauenserweckend schien, fuhr ich auch mit Männern. Es waren aber Ausnahmen.«
   »Wie kamst du dann nach Mexiko?«
   »Eben wegen Castañeda. Es gab bei uns am Gymnasium die Möglichkeit, Spanisch zu lernen. Ich tat das eine Zeit lang. Asien schwand aus meiner gedanklichen Welt. Ich ging noch bis zum Winter putzen, besorgte mir ein Flugticket nach New York, fuhr mit Bussen nach Kalifornien und mit Zug und Bus nach Mexiko. Ich gewöhnte mich an das Faulsein unter der Sonne, an die Tage am Meer, schließlich arbeitete ich in Acapulco in einer Strandbar. Das kalte Deutschland kam mir gar nicht mehr in den Sinn. In Acapulco begann die Sache mit den Drogen. Zuerst Pilze, wie im Roman von Castañeda, später Kokain und der andere Dreck. Alle redeten sie von Castañeda und seinen Pilzen. Aber ich kapierte schnell, dass sie mich nicht Ernst nahmen. Sie nutzten meine Situation aus, um mir Drogen zu verkaufen. Ich hatte Ihnen erzählt, dass ich wegen Castañeda nach Mexiko gekommen war. Es passte in ihr Konzept. Und ich verlor meine Orientierung.«
   »Und dann – bist du in Mexiko geblieben?«
   »Jahrelang. Ich hielt mich mit üblen Jobs über Wasser, aber ich kam von den Drogen nicht los. Trampte durch Südamerika, war auf der Flucht von mir selbst und begann irgendwann, Castañeda und diese ganzen esoterischen Ideen zu hassen. Ich schrie, wenn ich den Namen Castañeda hörte, ich schrie, wenn ich Pilze sah, ich schrie, wenn jemand über die Selbstheilungskräfte des Körpers sprach. Ich glaubte nichts mehr, was mit Übersinnlichem zu tun hatte. Ich verlor meine Stabilität. Hatte sie schon lange verloren.« 
   »Dann kam Miguel.«
   »Ja, dann kam Miguel. Er hat mich aus dem Elend herausgezogen. Nahm mich mit nach Spanien. Er war jünger als ich, arbeitete nach seinem Studium eine Zeit lang in Chile und wollte wieder zurück nach Europa. Ich liebte ihn und er mich. Er gab mir Halt. Seine Mutter, sagte er, lebe in der Nähe von Madrid, ihr Haus wäre groß genug. Miguel wollte in Madrid arbeiten. Amerika gefiel ihm nicht.«
   »Also gingst du zurück nach Europa.«
   »Es war eine gute Entscheidung. Nur mit den Jobs ... Das war wirklich schwierig. Wenn sie hörten, dass ich mich über ein Jahrzehnt in Südamerika aufgehalten habe, dann wollten sie wissen, warum ich dort gewesen sei. Ich sagte, ich hätte gearbeitet, sprach von Acapulco, aber alle waren misstrauisch. Miguels Mutter mochte mich anfangs gut leiden, auch später noch. Sie war besorgt. Um mich und mehr noch um Miguel. Und dann passierte das Unglück. Miguel starb nach dem Zusammenstoß noch im Auto. Von dem Tag an gab es keine Verbindung mehr zu seiner Mutter. Sie wollte, dass ich gehe. Ich fiel in ein Loch, tiefer als jenes damals in Mexiko. Ich hatte Angst um meinen Verstand.«
   »Dennoch hast du es geschafft, weder deinen Verstand noch dich zu verlieren?«
   »Ja und nein. Ich wusste, ich müsse arbeiten, ich wollte nicht vor die Hunde gehen. Mexiko stand mir vor den Augen.«
   »Du lerntest den Weinhändler kennen.«
   »Oh ja. Er empfahl mir, mich in der Bodega vorzustellen. Er sagte, die suchen jemand für den Außendienst. Ich ging also hin, wurde genommen, aber nicht für den Außendienst, ich sollte in der Kelterei arbeiten. Es war eine gute Zeit. Bald konnte ich nachvollziehen, wie Wein entsteht. Ich mochte den Geruch des Holzes und der Trauben. Und stell dir vor, auch den Geruch, wenn Wein auf die Bodenfliesen tropft und im Lehm versickert. Und die Kühle in den großen Hallen, wo die riesigen Fässer standen. Viele Leute besuchten die Bodega, ich lernte tolle Menschen kennen und spürte wieder Boden unter meinen Füßen. 
   Bis der Typ mit der Tätowierung auftauchte. Es hieß, er sollte mir beigestellt werden. Ich weiß nicht, ob sie nicht mehr zufrieden waren, wie ich meine Arbeit machte. Sicher, der Betrieb wurde immer größer, sie stellten ständig neue  Leute ein. Warum also sollte nicht auch mein Aufgabenbereich von Zweien statt von einer Person erledigt werden. 
   Nur, der Typ, er tat mir nicht gut. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, er wolle mich hinausdrängen. Zunächst freute ich mich über die Unterstützung bei meiner Arbeit. Ich erfuhr, dass er ebenfalls lange in Mexiko gelebt hatte. Es war schön, sich auszutauschen und Erinnerungen aufzufrischen, Ich ging sogar so weit, ihm zu erzählen, dass ich seinerzeit wegen Castañeda nach Mexiko gegangen war. Doch dann schikanierte er mich. Erzählte hinter meinem Rücken Böses. Und schließlich hielt er mir vor, ich sei eine Drogenabhängige. 
Ich fiel in alte Muster zurück. Ich bekam Angst, dass es wieder so werden würde, wie früher. Er verspottete mich als ›Castañeda-Junkie‹. 
   Ich ging zur Geschäftsleitung. Leider verstanden sie mich nicht. Kann sein, sie dachten, wir hätten private Schwierigkeiten. Ich ging wieder zu den Vorgesetzten. Beschwor sie, mir zu helfen. Ich hatte nie das Gefühl, sie würden sich um mich kümmern. Schließlich entließen sie mich. Sie sagten, ich würde Unruhe in den Betrieb bringen. Ja, ich war oft bei den Vorgesetzten. Am Schluss schrie ich sie an. Meine Angst, in das Loch zu fallen, war größer als alles andere. Denn ich liebte meine Arbeit. Den Blick aus der Halle über die Weinberge. Am Abend, wenn das Licht rot wird. Wenn die Sonne auf die Hügel scheint und im Herbst die Blätter der Rebstöcke golden leuchten. Ich habe es sogar geliebt, wenn meine Hände die Farbe des Weines annahmen. Wenn die Falten der Finger, oder die Ränder der Nägel eine dunkle Zeichnung trugen. Meine Fingerkuppen waren oft rau, verstehst du? Sie verfärbten sich leicht. Die roten Pigmente drangen ein und meine Hände sahen aus wie kleine Landschaften, wie kleine Radierungen. Und meine Schürze roch nach Trauben. Auch diesen Geruch mochte ich. Der Baumwollstoff und das Aroma der Trauben. Warum also sollte ich gehen? 
Warum durfte es geschehen, dass ich so behandelt wurde? Warum sollte ich gehen müssen? War es nicht Unrecht?«

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Bacalhau und der verlorene Wein

von Irmgard Silberbaur

Nie wieder würde sie ja sagen, wenn sie nein meinte, nie wieder!
Atemlos und trunken vom Geruch des ausgelaufenen Weines, oder war es die Genugtuung, die sie plötzlich durchrauschte? Sie stand hinter der alten Steinmauer und versuchte ihrem Atem zu beruhigen. Nie wieder und jetzt nochmals nie wieder hallte es durch ihren Kopf, prickelte es in ihren Zehen, die in quietschgelben Sneakers steckten und nie wieder lief es an ihren rotgetränkten Händen über die ebenso triefenden Beine hinab. Welch Gefühl, welcher Rausch! 
Sie hatte es getan und das erklärte den Zustand ihrer trunkenen Gefühle. Ihr Atem verlangsamte sich und machte einem neuen Gefühl Platz. Ja, ja, ja, das wollte sie zu sich sagen und jetzt musste sie sich beherrschen, es nicht laut hinauszuschreien. Um alle Welt wissen zu lassen, wie es um sie stand. Endlich hatte sie es gewagt und die Blockade durchbrochen. Es war schwer, sehr schwer und noch taten ihre Handgelenke weh, schmerzten, als hätte man ihre Hände von den Armen abgedreht und in eine unnatürliche Stellung gebracht. Und doch merkte sie beim genaueren Fühlen, wie eine Art Wirkung sich ihrer bemächtigte und sie heil werden ließ, an dem, was da ewig an ihr genagt hatte. 
Sie schlackerte plötzlich am ganzen Körper und kam sich vor wie ein nasser Putzlappen, der um zwei Stiele geschlungen war. Verdammte Scheiße, das fühlte sich jetzt wirklich scheiße an und dieses Mal stieß sie es laut und zornig hervor. So eine verdammte Scheiße! Sie trat gegen die Mauer und ließ ihrem Tritt die ganze Wucht der Wut folgen, die das Gefühl des nassen Putzlappens in ihr ausgelöst hatte. Die alte dornige Mauer stand, ohne ein Steinchen zu verlieren vor ihr und sah im kalten Mondlicht aus wie ein biblisches Wahrzeichen, das ewig und immer das sein würde, was es war. Eine Mauer eben – etwas Trennendes – ein Symbol für Unfreiheit. 
Ausgerechnet jetzt in der Stunde ihres größten Triumpfes stand sie da, um ihr Einhalt zu gebieten, über sich hinauszuwachsen, zu dem was sie eigentlich gedacht war. Da hatte sie es endlich gewagt, sich zu beweisen, sich zu rächen und nun das. 
Statt übers weite Feld den Hügel hinabzustürmen, wurde sie von dieser Mauer gestoppt, die sich unendlich im fahlen Licht den Hügel umrundend hinzog. Sie sah sich plötzlich gefangen und geriet in Panik. Was, wenn sie die falsche Richtung eingeschlagen hatte und jetzt hinter der Mauer war? Was, wenn man ihr Auto entdeckte, das sie am See hinter der alten verfallenen Mühle geparkt hatte? Das könnte alles ans Licht bringen, schließlich kannte er den Ort und würde sich fragen, weshalb ihr Auto dastand. 
Plötzlich tauchte zwischen den schwarzen Wolken die Mondsichel auf und legte ein gespenstisches Licht auf die Umgebung. Sofort versuchte sie sich zu orientieren und ließ ihren Blick panisch hin und her schweifen. Doch gerade, als sie glaubte, etwas entfernt die Silhouette der Mühle zu sehen, jagte der Wind das zuckende Licht oben in die Wolkenschwärze zurück. Es blieb ihr nichts anderes, als sich an der Mauer entlang zu tasten und dem dornigen Gestrüpp zu trotzen, das nun ihre Beine zerkratzte und den roten Rebensaft mit Blut vermischte. Verdammt, jetzt taten ihr auch die Waden weh und das verstärkte die Wut in eine Energie, die sie aus Träumen kannte. 
Flucht, Flucht, Flucht und rennen ums Leben, verfolgt von Angreifern, die sie selbst auf den Plan gerufen hatte mit ihrem Widerstand gegen Macht und Autoritäten. Kurz und heftig ihr Atem, rasende Gedanken, immer vorwärts, aber mit der Gewissheit ihnen zu entkommen, trieb sie mit hektischen Schritten dahin. Doch urplötzlich fiel sie ins Leere, was war das? Ein Nichts tat sich auf, die Hände ohne Halt flog sie ins Gestrüpp und blieb atemlos liegen. Sie drehte sich auf den Rücken schaute nach oben, um sich zu orientieren. Lag sie wirklich im Gras und sah diesen schwarzen Himmel, hörte das Geräusch eines Autos von der nahen Straße und war entkommen? 
Ihr Herz klopfte wie wild in der Brust und sie begann langsam zu atmen und sich zu bewegen, die Beine taten immer noch weh, doch das Gefühl der nahenden Freiheit ließ sie aufsitzen. Heftiges Herzklopfen und Zittern an ganzen Körper ließ sie wahrnehmen, dass sie in Sicherheit war. Zumindest für den Augenblick und heute Nacht. 
Sie lag in ihrem Bett und versuchte sich zu beruhigen, was ihr nur mühsam gelang. Immer öfters holten sie diese Albträume ein und aktivierten ihre Emotionen. Triumpf und Angst begleiteten ihr Leben seit jener Nacht, in der sie ihrem Selbst eine neue Ausrichtung verschafft hatte. Die Energie und Macht, die sie am hellen Tage verspürte, vermischte sich mit Energien der Angst zu einer Ohnmacht, die sie zwanghaft fliehen ließ. 
So konnte es nicht weitergehen. Die verdammte Tat musste doch einen Sinn ergeben, auf dem sie was Neues aufbauen konnte, das ihre Welt endlich bereicherte. Oder hatte das Schicksal andere Pläne mit ihr? Was, wenn ihr Motiv ans Licht kam? Daran mochte sie jetzt nicht denken, noch nicht… 
Doch plötzlich kam die Erinnerung an jene Nacht, in der sie mit ihm den hervorragenden Wein zu ihrem köstlich zubereitetem Bacalhau-Gericht genossen und danach der Lust im Sinnesrausch erlegen war.
Sie holte aus dem Vorratsraum die letzte Flasche 2021er Wein, nahm aus dem Regal einen Bacalhau, tappte in die Küche, holte einen Flaschenöffner mit zitternden Händen aus der hölzernen Schublade des Tisches, klemmte die Flasche zwischen die Knie und versuchte sie zu öffnen. Verdammt, es ging nicht, der Wein wollte nicht aus der Flasche! So sehr sie sich auch mühte, mit aller Kraft aus allen Winkeln den Kork aus dem Hals der Flasche zu ziehen, es half nichts. 
Sie starrte auf den Tisch, da lag der trockene Bacalhau und wartet auf seine Verwandlung. Sie brach urplötzlich in irres Lachen aus. Der ausgetrocknete Fischkörper und der verschlossene Wein, das war es. Die Nacht in der dunklen Küche, das ganze Szenario, ihr angehaltenes blockiertes Leben! Der Geist in der Flasche, der Fisch trocken, ungenießbar, die Manifestation ihres Lebens – hier lag sie vor ihr. 
Mit einem Ruck stand sie auf, die Flasche krachte auf den Terrazzoboden, der Wein spritzte hoch zu ihren nackten Beinen, tränkte ihr weißes Leinenhemd blutrot und ließ sie laut aufschreien. 
Die Erinnerung an jene Nacht des Sinnesrausches und des Absturzes danach, verschmolzen mit der Nacht der Rache und der heutigen zu einem einzigen Drama, das urplötzlich ihrem Leben einen Sinn zu geben schien.

Letzte Flasche Jahrgang der Versuchung 2022

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