Zu Fuss in die Abruzzen — Das Notizbuch

A PIEDI — ZU FUSS IN DIE ABRUZZEN

Quer durch Italien zu Fuß. Die Notizen einer Wanderung von Formia am Tyrrhenischen Meer nach Ortona an der Adria.

Montag, 31.08. _ Oh, oh, oh. Das fängt gut an. Wegen der schweren Regenfälle des Wochenendes im Alpenraum ist die Zugstrecke durch Südtirol unpassierbar, zwischen Innsbruck und Bologna ein Schienenersatzverkehr auf Bussen eingerichtet. So geht es auf die ungeliebte Brennerautobahn, anstelle auf Schienenwegen über die Alpen, wie ich mir das gewünscht hatte. Ich mag nicht glauben, dass wir den gebuchten Anschlusszug in Bologna erreichen werden. Doch zwei Stunden später sitzen wir in Verona im Zug nach Bologna und es scheint, als ließen sich die vorgesehenen Verbindungen realisieren. Ob es in Formia für ein Abendessen oder nur für ein Glas Wein reicht? Morgen Früh wollen wir spätestens um sieben Uhr los laufen.
   Bologna, 15:35h: Tatsächlich, der Terminplan lässt sich halten. Die ›Frecciarossa‹ düst in zwei Stunden nach Rom. Wir sitzen im ersten Wagon nach der Lok, in einem leeren Abteil. Um 17:40h bremst die rote Rakete im Bahnhof Termini und lässt uns aussteigen. Es waren 370 km — zwei Stunden und fünf Minuten sind dafür eigentlich nichts. Umstieg in den Zug nach Formia. Abfahrt 17:56h. Welch’ herrliche Reiserei.
   Paul K. aus dem Nachbarort holt uns vom Bahnhof ab und wir gehen essen. Antipasti mare und Spaghetti vongole an einer lärmigen Straße. Paul war der Leiter einer großen Buchhandlung in Rom und lebt seit 1998 am Golfo di Gaeta. Er ist mittlerweile 78. Ein Altlinker, der mit Günter Wallraff, Klaus Wagenbach und anderen einschlägigen Genossen gut bekannt war. Ich kenne ihn seit Ende der Siebziger.
   Nachts im Hotel ist es warm, die Luft steht in den Räumen, aber wir schlafen gut. Morgens Frühstück in der Bar am Bahnhof mit bestem Angebot in herrlicher Atmosphäre. Viele Bars an italienischen Bahnhöfen sind Wohlfühlorte — im Gegensatz zu den flächendeckenden Imbissbuden bei der deutschen Bahn.

Dienstag, 01.09. _Wir wandern! Heute wohl 1100 Höhenmeter und etwa 27 km Wegstrecke. Heftig für den ersten Tag, doch alternativlos, weil sich direkt hinter Formia die hohen Berge des Arunci-Massivs erheben. Von Formia aus sehen Bergmassiv und Felswände bedrohlich aus. Bedrohlich hoch. Hinter Maranola führt ein wilder Pfad hangwärts. Einige Male kreuzen wir die Straße, noch ist es kühl, doch schon um neun Uhr brennt die Sonne recht unerbittlich und wir sind nassgeschwitzt. Dafür ist die Aussicht grandios, das blaue Meer, die anmutige Küstenlinie, das Kap von Gaeta. Mir geht im Kopf herum, dass Cy Twombly hier gelebt hat, ein amerikanischer Maler, dessen expressive Bilder ich schätze. Seinen Lepanto-Zyklus sah ich zum ersten Mal auf einer Venedig-Biennale. Er galt als ein scheuer Mensch, der seine Tage in Gaeta eher zurückgezogen verbrachte. Dann führt parallel zur Straße eine Art Tratturo unter Steineichen bis zu einer Mischung aus Freizeitressort und Wallfahrtsareal. Ein kleiner Altar für Pater Pio, herumstehende Stühle, die eine verlassen wirkende Kapelle und die sie umgebende Wüstenei mit der Begründung absperren, es gäbe keinen Parkplatz mehr. Ein Schild signalisiert, dass der Rifugio Pornito, eine bewirtschaftete Berghütte, ein Stück oberhalb läge und geöffnet sei. Wir freuen uns wie Schneekönige ob des guten Timings. Leider ist die Tafel nur ein Fake, denn als wir ankommen, liegt das Schutzhaus verlassen und versperrt; es verwehrt sich den Gästen. Wir steigen ohne den ersehnten Caffè weiter, erreichen den Pass, blicken letztmals und wehmütig aufs Meer und steigen durch einen dschungelartigen Niederwald ab. Bald umgeben uns schöne Buchen, Steineichen und Eiben, Hopfenbuchen und bemooste Felsen. Terrassenartig fällt der Nordhang ab und erst spät am Nachmittag passieren wir aufgegebene Hofstellen, einsame Häuser mitten im Wald. Zwei drei Kilometer vor unserem Ziel kommt uns auf dem schmalen Asphaltband ein Carabinieri-Fahrzeug entgegen. Eine Mann und eine Frau sitzen drin. Sie zögern, dann halten sie dreißig Meter hinter uns an und fragen, ob wir Hilfe bräuchten. Wir verneinen, erzählen von unserem Vorhaben und als wir uns voneinander verabschieden, rufen Sie uns noch zu, wir sollten bei Problemen die Nummer 112 anrufen. Alles klar, das werden wir tun. Arrivederci. Ciao.
Abendessen in Esperia in guter Trattoria. Auf dem Teller Bruschetta mit eineinhalb Jahre gereiftem lokalen Ziegenkäse (Marzolino). Über uns die Entlüftung der Küche. Es riecht nach Pizzeria. Vordergründig nach Mehlteig, wird abgelöst durch einen Hauch leicht angesengter Pizzakruste. Abgang diffus. Neben der Lüftung ein Außenlautsprecher, der mit zurückhaltender Dröhnung eine Mischung aus Nachrichten und Werbung in die Umwelt schickt. Alles ist auf seine Weise passend.

 

Mittwoch, 02.09. _ Morgens: Der Schlaf war tief und erholsam, doch ich wachte früh auf und stehe nun lauschend auf dem Hotelbalkon. Die Geräuschkulisse ist noch moderat. Hunde bellen, ein Hahn kräht in Endlosschleife, die Müllabfuhr hält ihr abklingendes Scheppern verträglich, kehrt aber aus der entgegengesetzten Richtung zurück. Auch von der anderen Hausseite ist Autoverkehr vernehmbar. Montecassino hingegen liegt im Dunkel, wiewohl der mächtige Bau auf der Anhöhe über dem Ort von Minute zu Minute wahrnehmbarer wird. Darüber liegt die Schraffur eines spröden Wolkenbandes in grauem Rot. Die weite Landschaft erscheint links wie rechts von den benachbarten Bergen eingerahmt, am Ende der flachen Ebene drückt der Apennin seine zackigen Konturen in den gelbroten Sonnenaufgangshimmel. Bald sollte die goldene Scheibe leuchten.
   Die Geräusche jetzt: Ein heiserer Hund bellt kläffend im Takt, weit entferntes, doch beständiges Taubengegurre, eine Art dumpfes Teppichklopfen in der Art von Schüssen und das fürchterlich banale Gebimmel einer Kirche. Letzteres könnte auch von Schafen oder Ziegen stammen. Dann wieder Sequenzen der Stille.
   Ich warte weiter auf die Sonne, lehne an der Balkontüre, die Zehen werden kalt. Nach und nach füllt sich die Niederung mit Licht. Hinter mir scheppert ein Lastwagen die Via Principale hinunter. Das immer wieder anschwellende Gebimmel stammt nun eindeutig von Tieren, erinnert dennoch an Sensengedengel. Im Siedlungsbrei des Flachlandes initiiert dünner Dunst ein changierendes Farbenspiel aus Häusern und Bäumen. Ein künstliches Licht nach dem anderen erlischt. Das Land liegt um diese Zeit wie unversehrt und bittet um Nachsicht. Endlich, sie ließ sich lange bitten, die Sonne.
   Tagsüber: Wir hatten die Mühen der Ebene auf der heutigen Strecke erwartet. Doch zunächst sorgt ein geradezu paradiesischer Weg auf einer Art Landschaftsbalkon für einen fulminanten Auftakt. Über uns (kein Witz so früh am Morgen) ein Adler, unter uns aberhunderte von Schrotpatronenhülsen. Vor, hinter und neben uns aufgelassene Olivengärten, in denen sich neben den Ölbäumen Flaumeichen, Steineichen, Eschen und Nussbäume ausbreiten. Auf verschlungenen Wegen geht es zum Liri-Kanal und zum Liri-Fluss. Der alte, spröde wirkende Ponte dürfte bei uns wohl nicht mehr stehen, er bringt uns jedoch heil ans andere Ufer. Schließlich kreuzen wir zwei Bahnlinien und die Autostrada und staunen, dass die hiesige Jugend nicht Nudeln ins Wasser, sondern sich selbst unter den Zug zu werfen präferiert* (siehe dazu die Anmerkung am Schluss der kalendarischen Einträge).
Ankunft in Montecassino recht früh am Nachmittag. Erste Empfindung: länger bleiben müssen wir hier nicht. Zumal das wiederaufgebaute Kloster für zu Fuß Gehende, weil etliche steile hundert Meter höher, kaum erreichbar ist. 
   Ach, und — der Zettel am Brückenpfosten. Noch in Deutschland suchte ich vierzehn Bücher aus, kopierte Textseiten, nahm sie samt vierzehn Schnurbändern mit. So entsteht eine literarische ›Perlen‹kette auf dem Weg vom Meer zu Meer. Zuerst eine kleine Lesung, dann das Festbinden der Zettel an Baumstämmen oder sonstigen Säulen. Gestern war es »Der Baron auf den Bäumen« von Italo Calvino mitten im Wald, heute »Arturos Insel« von Elsa Morante.

Donnerstag, 03.09. _ Am Ende der gestrigen Wanderung kommt es zu einer Art Delegation. Das romantische, schön gelegene und vor Wochen gebuchte B & B »Il Maniero« zieht es vor, ein Hochzeitsfest auszurichten und sich an unsere Buchung nicht mehr zu erinnern (»Wann haben Sie geschrieben? Ich finde die Mail nicht.«) Verhandeln hilft nicht (»Es wird laut werden bis um drei Uhr nachts!«). Der Padrone (weißer Polodress, Goldkettchen und Goldbrille) bietet an, uns ein paar Meter weiter in ein 4-Sterne-Hotel zu fahren (»Gleicher Preis!«). Er delegiert uns zu seinem weißen Mercedes. Wir legen unsere Rucksäcke in den völlig vermüllten Kofferraum, lassen uns in das nahe gelegene »Forum Palace Hotel« chauffieren. Der erste Eindruck: Welch’ riesiger Kasten. Der zweite: Die Zeiten waren früher optimistischer. Immerhin wohnen wir nach hinten hinaus zur kühlen Nordseite und die Lüftungsanlage schaltet sich um 23 Uhr ab. Alles in Butter also. Aber das Fenster? Ja, nun, es ähnelt einem Gemälde von Turner, ist im Gegensatz zum englischen Meister jedoch vollständig blind. Wir bringen es für 15 Stunden in Schieflage, spannen durch den weitläufigen Vorraum unsere Wäscheleine, hängen die gewaschenen Kleider zum Trocknen und schlafen gut. Stille und frische Luft sind wie überall die wichtigsten Kriterien einer geruhsamen Nacht. 
   Nach einem tadellosen Frühstück ziehen wir durch die heilige Stadt von dannen. Ich weiß jetzt wieder, was mich an Altötting (eigene Anschauung), Lourdes und Fatima (vom Hörensagen) bedrückt. Hier in Italiens südlicher Mitte kommen noch tosender Verkehr, belästigende Autos auf allen Trottoirs, die Unwirtlichkeit des Gemeinwesens und die drückende Klosterfestung hoch über der Stadt hinzu. Der Auszug geht über viele Piazze und um noch mehr Ecken, doch schließlich finden wir den langen Weg entlang eines Flusses, beschattet von Bäumen, mit Wasserrauschen und schönen Blicken. Ankunft im Hotel in Casalucense bereits um 14:30h. (Eine prophylaktische Planung, denn der dritte Tag soll der anstrengendste sein, heißt es.) Fauler Nachmittag. 
Literatur heute: Joe Fiorito »Die Stimmen meines Vaters«, Standort: Ein Alleebaum an der Landstraße. Radler werden ihn entdecken. Zu Fuß Gehende sind dort selten.

Freitag, 04.09. _ Gestern wie heute weichen wir von der vorgeschlagen Strecke ab und vermischen den Gebrauch der Apps von Komoot, Alpenverein und Google Maps. Der gefundene Pfad führt auf einem abgefuckten asphaltierten Verbindungsweg oberhalb einer wenig befahrenen Schnellstraße über einen Waldhang. Für uns nur eine Abkürzung des Weges, bis wir rechter Hand ein Schild sehen, das auf eine Brauerei mit Namen »Thirsty Brothers« hinweist. Das Tor steht offen, Hunde bellen. (Gedankenhurrikan: Oh elende Tiergattung —Millionen Hunde auf unserem Weg kranken an Hospitalismus — wir sind die einzigen Fußmenschen zwischen dem Brenner und Sizilien — alle anderen fahren Auto — was sollen denn die bemitleidenswerten Geschöpfe sonst tun, als uns anzubellen — aber es sind Millionen, wie ich schon schrieb — es ist kaum auszuhalten — alle sind heiser — wir haben keinen Halswohltee dabei — ob sie den überhaupt tränken?!)
   An den Tieren vorbei drücken uns zur Eingangstüre. Sie ist verschlossen! Shit. Wir entdecken eine italienische Craftbierbrauerei und stehen unverrichteter Dinge vor den Toren? 
Wir rufen (Hunde bellen), wir klopfen (Hunde bellen), wir rufen erneut, gehen zurück zur Einfahrt, biegen um das Haus hinunter zum Souterrain, links eine Gartenlaube mit PC-Monitor (die Türe offen), dann eine Art Lagerschuppen (die Türe ebenfalls offen), rechts ein weißes Lieferauto mit »Thirsty Brothers«-Beschriftung (die Türen geschlossen). Wir rufen erneut und siehe da, aus dem Untergeschoss (das Tor offen) tritt ein junger Mann mit verwundertem Blick. Matteo, einer der drei Brauer.
   Die folgende halbe Stunde gehört den Leidenschaften nichtindustriell geprägter Biertrinker. Wir hören von fünf Sorten, die sie brauen, davon, dass Corona ihren Umsatz auf ein Achtel zurück geschlagen hat, dass sie ihr Bier bis L’Aquila verkaufen — bekommen jeweils ein Light Ale geschenkt und scheiden als Freude. Der Rest des Tages ist nicht so wichtig. Laufen, Ankunft im Agriturismo am Ortsrand von San Donato, wohlschmeckendes Abendessen, baldiger Schlaf. 
   Wir haben Glück mit dem Agriturismo, in dem wir zwei Nächte und einen Tag verbringen. Hier wollen wir Kräfte für den Aufstieg in den Nationalpark Abruzzen und damit in den höheren Teil des Apennins sammeln. Das Gebäude ist eine Mischung aus (schönem, altem) Bauernhaus und Umweltzentrum. In dem Zweikanthof aus Naturstein werden nicht nur Essen und Übernachtung angeboten, sondern auch didaktische Exkursionen in den Nationalpark sowie Fortbildung für Tour Guides. Schulklassen und Gruppen kommen hierher, oder Einzelreisende wie wir. Diese Woche sind wir die einzigen Gäste. An Tieren halten sie Esel (zum Transportieren), Schafe und Ziegen (zum Verspeisen), ein Pferd (womöglich zum Reiten), Kühe auf einer benachbarten Hofstelle, Hühner noch und einen Hahn. Alles wirkt auf den ersten Blick so alternativ, als würden demeterbeeinflusste Kommunarden sich dem dolce far niente hingeben, doch es sind zwei taffe Frauen, zwei Schwestern, die das Zentrum leiten und ihr Arbeitseinsatz scheint immens. Die ebenerdigen Gasträume sind fast fensterlos und sehr hoch, wie überall in Italien das Gesetz es will. Nur eine Lünette über der schmalen Eingangstüre lässt Licht in die Stube — in heißen Monaten ist diese Architektur ein Segen (und im Winter bin ich ja nicht da.)
Literatur heute: Liaty Pisani: Das Tagebuch der Signora.

Sonntag, 06.09. _ Oh, liebenswerte Hunde — ob Beller, Röhrer, Kläffer, Krächzer, Winsler oder Knurrer — ich leiste Abbitte. Seit heute wissen wir, was sich als wahre Plage unserer Italienquerung in Ohren und Gemüt bohrt.
   Nach unserem Ruhetag im Agriturismo, nach einem Sonnentag unter Nuss- und Buchenbäumen, in Hängematten und kühlen Räumen, gerüstet nur mit Buch, Lesebrille und Badeschlappen, nach bescheidenem Frühstück, doch kräftigem Abendessen, inmitten ländlicher Idylle, angelacht von Gipfeln und Kämmen zum Greifen naher Berge, nach Abschiedsfoto und Salve der stets beschäftigten Wirtin — nach Wiedererlangung aller Kräfte also — machen wir uns pünktlich um halb neun auf den Weg nach Pescasseroli
   Es geht ohne Unterlass hinan. Schonung dürfen wir erwarten von den Schatten des Buchenwaldes, der uns den ganzen Tag in seiner unermesslichen Schönheit beschützt, denn es wird auch heute wieder heiß, heiß, heiß. Das Spiel der Sonne, wenn sie es schafft, das Blattwerk zu durchdringen und Farbnuancen aus hellem Grün entstehen zu lassen, wenn sie kompakte Lichtbalken durch die unruhige Reihung der Stämme schiebt, wenn sie den Kalkstein grellweiß, die Moosteppiche leuchtendgrün, die Erde getreidekaffeebraun ausleuchtet, ist wohl neben den Abendstimmungen an Meeresküsten nirgendwo so verzaubernd wie in den südlichen Wäldern, den abruzzesischen zumal. 
   Durch solch illuminierte Waldabschnitte steigen wir ein steiles Kerbtal hinauf, lassen San Donato und sein Glockengeläut zurück. Offensichtlich werden hier sonntags noch zwei Messen gelesen. Die Sonntagmorgenklänge, die uns eine Stunde vorher in den Borgo hineinläuteten, verabschieden uns nun nach den letzten Häusern vor dem Wald. 
   Wochenenden mit dem guten Wetter im Sommerhalbjahr jedoch locken Plagen an, die in ihrer akustischen Auswirkung Pandemien gleichen. Gerne ließen wir uns alle fünfzig Höhenmeter von Hunden verbellen, müssten wir nicht den gesamten Anstieg das nervtötende Dröhnen der Motorräder aushalten, deren berittenes Personal benzinvergeistigt und geschwindigkeitssüchtig eben jenes Kerbtal zur billigen Rennstrecke degradiert. Im vereinigten Europa scheint der Motorenlärm zu den Ritualen des sinnentleerten Sonntags zu gehören. Oben am Pass Forca d’Acero wird ein Bikermenü feilgeboten, bestehend aus einem Getränk und einem Panino. Ein italienisches Armutszeugnis? Ach was! Den krachmachenden Horden stehen keine Nudelgerichte, steht kein Lammbraten, steht keine Pizza dolce zu. Kein Trost also? Keine Aufhellung des Gemüts? Kein Elixier? Doch, zwiefach. An jenem Pass verläuft die Grenze Lazio-Abruzzo, beginnt das gelobte Land. Noch wichtiger: Ab hier verläuft der Wanderpfad weitab von der Straße. So dürfen wir auf unserem weiteren Weg das beschriebene Elysium des Waldes in seiner Stille genießen. Glorie! Zauber! Freude! Begleiteten uns in diesem Überschaum zwei sympathische Hunde, es wäre uns recht.
Ritueller Schlusssatz — welche Literatur heute? Wir greifen ins Opulente: Ein Auszug aus Dantes Göttlicher Komödie hängt an einer abruzzesischen Buche nahe einer Weidewiese inmitten lichten Waldes.

Montag, 07.09.Pescasseroli war der erste Ort auf unserem Weg, der mich das Vertraute spüren lässt, die Verbindung zu den Menschen, die meine Arbeit in den Abruzzen seit Anfang an bestimmt. Oder wie fühltest du dich, wenn auf der Straße dein Name gerufen wird, einer auf dich zugeht und ankündigt, dass er dich jetzt umarmen wird? Die Freundschaft mit Roberto, dem Wirt des »A’Cavut« ist jünger als andere Verbindungen, aber sie ist auf ihre Weise altmodisch herzlich. Wahrscheinlich, weil wir uns gegenseitig teilhaben lassen an unseren jeweiligen Schicksalen, auch wenn unser Austausch weniger häufig erfolgt, als wir uns es wünschten. 
Literatur: John Fante. Eine Braut für Dino Rossi. Buche oberhalb des Valle Scannese.
 

Dienstag, 08.09. _ Zwischen Frattura und Frattura Vecchia kommt uns ein Mountain Biker entgegen. Er ist der Cousin von Mauela Cozzi, in deren Agriturismo wir essen und schlafen wollen. Mich reitet der Übermut und ich übersetze ich ihm Liedpassagen von Georg Ringsgwandl. Sage dazu, es gäbe im Deutschen einen Song, ganz perfekt auf ihn zugeschnitten. Manche Ausdrücke hat er nicht kapieren können ... aber er lacht breit über das ganze Gesicht und sinniert, welche absonderliche Vögel da bei seiner Kusine nächtigen wollen. 

      Vedi, arriva il Mikel / Con la sua biciglietta figa / Ci apare vestito
      con colori sgargianti /Come un uccello selvaggio calvalce fra le
      gole.
      (Schau, da kommt der Mikel / Mit seinem geilen Mountain-Bikel / Neonbunt erscheint er uns gekleidet / Vogelwild er durch die Schluchten reitet.)

Castrovalva. Gleich erreichen wir Castrovalva, das Dorf auf dem Felsenkamm über Anversa. Oh besonderer Ort! Da beschäftigt sich eine Männergruppe seit 1986 mit etymologischen Spitzfindigkeiten, will sagen, fragt sich, ob eine Umwidmung eines Dorfnamens von Castrovalva in Castrovulva aus Gründen lustvoller innerer Betrachtung nicht sinnig wäre und erfährt erst 2020 die Bedeutung der Bezeichnung des Ortes. Castro kennen wir in und um Regensburg Lebende als Castra, als Burg oder Festung. Diese hatte auch der Ort über Anversa zur Kontrolle des Sagittario-Tales. Für Valva gibt es eine ebenso naheliegende Klärung, die gewissermaßen gestisch unterstützt wird. Die Hände formen eine enge Muschel, eine Höhle, ja genau, eine Vulva, und formen damit entsprechend, weil Valva sprachlich just daher kommt. Valva ist Vulva. Da hätten wir uns unser süffisantes Grinsen sparen dürfen, oder, besser noch, wissend sagen können, schöner Ort, schöner Name.
Literatur: Heinrich Federer. Sisto e Sesto. Hagebuche oberhalb von Castrovalva.

Mittwoch, 10.09. _ Wir sitzen in Sulmona vor der Bar Centrale, eine der besten Eisdielen der Abruzzen und stärken uns vor dem Schlussanstieg nach Pacentro. Sulmona durchwandern wir maskiert. Vorher, in Bugnara, entdeckten wir ein bemerkenswert »gereiftes« Verkehrsschild. Auf seiner vertikalen Ebene hat sich ein Flechtenbiotop entwickeln dürfen, das jede urbane Fassadenbegrünung auf hintere Plätze verweist. Geschätzt einen halben Zentimeter Dicke misst der graue Bewuchs, aufgelockert durch andersfarbige Flechtenornamente. Die flächige Grundfarbe der Tafel selbst ist blasig und aufgequollen, ein Blau ist es, angesiedelt zwischen erodiertem Lapislazuli und dem Azur mancher Fußballtrikots. So oder so, ein Kulturdenkmal. Wir sollten es erwerben und bewahren, bevor lokale Stimmen Scham artikulieren und es durch eine glatte Neuedition ersetzen. 
   Abends überraschen uns Peter und Änne im Quartier in Pacentro, in das auch sie sich eingemietet haben. Abendessen auf der Terrasse in einem meiner Lieblingslokale, der »Caldora«, mit weitem Blick über das Lichtermeer von Sulmona. Wirt Carmine Cercone treffen wir bereits bei der Ankunft in der Hauptstraße, als er mit seiner Einkaufstasche unterwegs ist.
Heutige Literatur: Donnatella Di Pietrantonio. Meine Mutter ist ein Fluss. Schmächtiger Eichbaum gegenüber des Friedhofs von Bugnara.

Donnerstag, 10.09. _ »Die Faust der Revolution erhebt sich aus den unbeweideten Wiesen des Passo San Leonardo in der Majella.« Wer weiß schon, dass der heilige Leonhard einst Patron der Gefangenen war? Wir atmen die Freiheit der Berge und doch war diese Gegend beginnend vor fast auf den Tag genau 77 Jahren Umgebung von Mord und Tod, als die deutsche Wehrmacht und die weiteren Verbrecherorganisationen des NS-Staates Italien zu unterwerfen suchten. Als die allierten Kriegsgefangenen aus dem Lager Sulmona über das Gebirge flüchten und mit den Schäfern nach Süden wollten.
Literatur: Ovid. Philemon und Baucis, in einem bezaubernden Buchenhain unterhalb des Passes S. Leonardo.

Freitag, 11.09. _ »Anna, gute Freundin!« Seit 1995 mindestens bin ich bei dir zu Gast in Sant’Eufemia a Maiella, genieße deine Küche mit ihren wundervollen Speisen, mit denen du die Früchte deines Landes — Gemüse, Kräuter, Käse, hausgemachte Nudeln, Lammfleisch — auf den Tisch bringst. Stets lacht dein Gesicht, wenn ich mit meinen Gruppen durch die Türe trete, sind dein Bruder Remo und Maria, deine Schwägerin, da, um uns zu umsorgen. Es war eine Wonne, auch gestern mitsamt Angela und Giuliano, Rita und Maria bei euch zu essen. Dabei weiß ich erst seit gestern mehr über die Geschichte deines Restaurants, hörte von den Schwierigkeiten der Anfangsjahre, als dir die Behörden die Eröffnung des »L’Astoria« nicht genehmigen wollten, weil sie die Raumhöhe als zu niedrig ausmaßen und ihr einen guten halben Meter nach unten graben musstet (in einem Haus, wohlgemerkt, das schon seit langen Jahren als Wirtschaft diente). Und als ihr diese Widrigkeiten gelöst hattet, kam die ›Frana‹, der Erdrutsch, der euer Dorf abschnitt und euren Gäste große und lange Umwege aufnötigte. Gestern nahmst du dir eine Stunde Zeit und erzähltest uns aus deinem Leben. Der Aufenthalt bei dir gehört zu den Geschenken, die uns auf unserem Weg von Meer zu Meer bereitet werden.
Literatur: Natalia Ginzburg. Winter in den Abruzzen. Eiche zwischen Decontra und dem Valle Santo Spirito.

Samstag, 12.09. _ Manchmal lässt sich die Kultur nicht ins Wanderprogramm integrieren. Da hatte Antonio Bini die wunderbare Idee, uns in Serramonacesca, im Hof der Käserei »La Tua Fattoria« mit einer Gruppe von ›Zampognari‹, den Dudelsackspielern, zu überraschen. Doch die Route von Roccamorice nach Casalincontrada sollte sich nicht nur als die längste Strecke unserer gesamten Durchquerung herausstellen, sondern auch als die anstrengendste. Mit einem Wort, an eine pünktliche Ankunft in Serramonacesca war nicht zu denken, und, was noch tragischer war, die Käserei lag gar nicht auf von uns ausgesuchten Weg. So gaben die zwölf Musiker ein Konzert, dem nur die Käserin lauschte. 
   Wir wanderten von Roccamorice hinauf in Richtung des Astoro-Hügels, stiegen wieder ab und quälten uns durch die Schlucht mit der Grotta S. Angelo, dann hinauf zu einer faszinierend schönen ›agropastoralen‹ Landschaft mit Steinhäusern, auf einem gefährlich steilen Weg wieder hinab zum Eremo S. Onofrio, weiter hinunter nach Serramonacesca (wo wir uns in der gastfreundlichen Bar an den vorhandenen Flüssigkeiten schadlos hielten), abwärts zum Fluss, wieder hinauf zu den Hügelkämmen, die uns durch Gegend der ›Calanchi‹, der markanten Lehmformationen, führten, noch weiter hinauf nach Casalincontrada, in einem gewaltigen Bogen durch den langen Ort und schließlich tief hinunter zum B & B »Borgo Capo«, im Lehmhaus des Architekten Gianfranco Conti.
Literatur: Marie-Luise Kaschnitz. Juni. An einer der Holzsäulen der Remise des Borgo Capo.

Sonntag, 13.09. _ Unsere kräftezehrende Wanderung gestern wurde mit einem anspruchsvollen Abendprogramm belohnt. Im Hof von Gianfranco, unter dem offenen Dach seiner Remise, fand zunächst das Abendessen statt. Eine Gesellschaft von knapp zwanzig Freunden und Bekannten brachte Speisen und Getränke mit, ein Regisseur und zwei Schauspielerinnen lasen Texte von Schäfern, danach revanchierten sich Angela und ich mit Marie-Luise Kaschnitz. Der hohe Anteil künstlerischer Inszenierung berührte tief und nachhaltig. Ich verglich die schöne Tafel der Tischrunde mit der Gesellschaft in Fellinis »Amarcord«. Nur versammelten wir uns nicht am Meer, sondern in den Colline, im Hügelland ...
Literatur: Ignazio Silone. Brot und Wein, an einem Olivenbaum neben der Pergola von Angela und Giuliano in Bucchianico, wo wir in unserer Mittagspause fürstlich mit den Früchten des Gartens verwöhnt wurden.

Montag, 14.09. _ Gedanken Heute ist unser letzter Wandertag. Wenn wir in Ortona ankommen, verbringen wir die Zeit bis Mittwoch gemächlich. Schreiben, Nachdenken, Baden, mit Rupert reden, unser Projekt ausklingen lassen. Ulli ist heute Morgen schon zurückgefahren. Ich bin sehr froh und guter Dinge, alles war leicht, nichts, auch nicht die harten Passagen haben uns über das Maß gefordert. Wir essen in Ortona im wunderbaren Ristorante Vecchio Teatro, wo wir auch schlafen.
   Dialog nach der Ankunft am Meer, auf der Zielgeraden unterhalb von Ortona: 
H: »Jetzt sind wir da. Ging eigentlich ganz zügig.« 
R: »Wir befinden uns in einer schnelllebigen Zeit.«

Mittwoch, 16.09. _ Symposium über Tourismus in den Abruzzen. Die Veranstaltung im Rathaushof von Bucchianico war eindrucksvoll. Der Bürgermeister begrüßte, Giuliano moderierte die Veranstaltung, Angela stellte mich vor und übersetze meinen Beitrag. Trotz der eingehaltenen Corona-Abstände konnten an die 50 Gäste teilnehmen, auch das Fernsehen (RAI3), die Presse (Il Centro) hatte schon berichtet. Die Mütter von Angela und Giuliano und viele Freunde und Bekannte waren da. Antonio Bini, der frühere Tourismusdirektor der Region, und Gaetano Basti, der Herausgeber des Kulturmagazins ›D’Abruzzo‹, referierten. Und Gianfranco Conti, der Lehmbauarchitekt, bei dem das Fest am Samstagabend stattfand. Er beschrieb die Vorzüge, Merkmale und Wirkungen von Lehmarchitekturen weltweit, ihre Kleinteiligkeit, ihre sozialen Effekte, ihre Nachhaltigkeit. Schließlich sagte er, seine und meine Arbeit seien miteinander vergleichbar, unsere Philosophien identisch, Lehmarchitektur und die Reisen von Erde und Wind würden einander entsprechen. Eingangs erzählte er, dass wir uns schon seit 1998 kennen, als ich ihn zum ersten Mal fotografierte. In meinem Part konnte ich auf die guten Charakterzüge der Abruzzesen eingehen, machte Anleihen bei Ignazio Silone und Uys Krige mit der literarischen Gestalt des Schäfers Bartolomeo. Es kam als Kompliment an Land und Leute gut an. Somit war alles stimmig.
https://www.chietitoday.it/eventi/festa-della-terra-2020-programma-casalincontrada.html

Donnerstag, 17.09. _ Eine Gedankenwelt von Eindrücken bleibt für jeden von uns. Sie zu destillieren oder zu hoffen, sie werden sich in den Erinnerungen ihre festen Plätze suchen, ist Wunsch und Erwartung zugleich. Vordergründiges, Hintersinniges, Berührendes und Distanz Schaffendes mischten sich. Dass italienische Bauern nicht unbedingter dort arbeiten, wo sie wohnen, war für den einen neu, dass es in Italien nicht so selbstverständlich ist, wie bei uns, über offenes Terrain zu gehen, für den anderen. Dass wirkliche Stille ein seltenes Erlebnis ist, nahm ich am Samstag nach dem Ausstieg aus einer Schlucht ganz plötzlich wahr, als der Wind nicht mehr wehte und keine Geräuschen mehr auslöste. Dass der Weg fast beiläufig Geschenke kredenzt, wie vorvorgestern einen archaisch anmutenden Hohlweg, in dessen Staubmuster wir durch steile Weinberge tappten, wiederholte sich fast täglich, und dass die Schönheit der italienischen Bergwelt oft mehr als nur ein Staunen auslöst und Ergriffenheit dazu, war nicht einmal durch den Abfall am Straßenrand gemindert. Schließlich sind selbst in Covid-Zeiten als überkommend gedachte Begegnungen möglich, wie eines Vormittags an der Friedhofsmauer in Caramanico Terme, als uns zwei Gemeindearbeiter zum Rotwein einluden. In hygienischen gelben Plastikbechern, die anschließend sicher entsorgt, sprich, in den Müll wanderten, kosteten wir vom einen der beiden selbst produzierten Rotwein. Labsal zur richtigen Zeit unter Vertreibung aller Gedanken an womöglich falsch verstandene Achtsamkeit.

*Erläuterung zu »Die Jugend präferiert, sich unter den Zug zu werfen ...« (Mittwoch, 02.09. — siehe dazu auch das illustriernde Foto):
Die Erklärung des ›Unterdenzugzuwerfenpräferierens‹ nötigt uns einen Umweg auf, der zunächst zur Nudel, zur Pasta führt: »Butta la pasta« ist eine Art geflügeltes Wort, eine Phrase, ein Ruf, der im Sinne der reinen Übersetzung bedeutet, »die Pasta ins Wasser zu werfen« (»Wirf die Nudel!«). Folgendes überkommenes Bild liegt ihm zugrunde: Frau kocht zu Hause, Mann arbeitet außer Haus. Die Mittagspause naht, Mann setzt sich in Bewegung, um nach kurzem Nachhauseweg am Tisch und vor dem Teller zu sitzen, in den unmittelbar die frisch gekochten Spaghetti gehoben werden. Damit diese einerseits fertig gekocht, doch andererseits nicht über den al dente-Zustand hinaus im Wasser verbleiben müssen und somit einem perfekten Timing folgen, war »Butta la pasta« das Signal — noch vom Arbeitsplatz aus.
   Ganz anders der Eindruck, der sich uns vor Cassino stellte. Wir überschritten die hochgesicherte Hochgeschwindigkeitstrasse der italienischen Staatsbahn auf der Strecke Rom-Neapel auf einer Fußgängerbrücke. Um auf die Brücke und anschließend wieder hinunter auf ebenes Terrain zu gelangen, waren an beiden Seiten offene Treppenhaustürme errichtet. Offensichtlich ist diese Passage keine frequentierte Route, weshalb es Graffitoschreiber leicht haben, unentdeckt zu sprühen und Graffitos andererseits weniger leicht entdeckt, wie wahrgenommen werden. (Was vermutlich auch die Halbwertszeit des Graffitos dehnt.) Die Parole an der Bahnbrücke jedenfalls ist herb. Sie lautet, abgeleitet von der nationalen Nudelbotschaft: »Wirf dich unter den Zug.«
   Die ins Morbide reichende Aussage erinnerte mich an ein Seminar, das ich Anfang der neunziger Jahre in Neumarkt St. Veit im Oberbayerischen leitete. Es ging um bayerische Verkehrspolitik, zu dem eine Reihe von regionalen und überregionalen Verkehrsexpert*innen eingeladen waren, darunter auch entweder der Bürgermeister oder ein anderer Stadtoberer von Neumarkt.
   Zwanzig, dreißig Jahre zuvor war Neumarkt noch ein frequentierter Eisenbahnverkehrsknotenpunkt gewesen — mit brummender Bahnhofsgaststätte, wie der Stadtobere ausführte. Doch mittlerweile spielte Neumarkt keine Rolle mehr im Verkehr der Bahnen und auch nicht mehr als Unterzentrum auf dem hügeligen Land zwischen Plattling, Landshut, Rosenheim und Passau. Fade Gegend, fader Ort, gelangweilte Jugend? Eine Spraydose in einer Hand des Aufbegehrens schien es aber gegeben zu haben, denn in der verwaisten Bahnunterführung stand zu lesen: »Neumarkt ist nur halb so groß wie der Zentralfriedhof von Chicago, aber doppelt so tot.« Weshalb sich der Stadtobere bei dem Seminar sehr echauffieren musste, sowohl über die Parole an sich als auch über die Verunzierung der Unterführung. Dabei wäre er doch in guter Gesellschaft gewesen (mindestens der Bahnhof), denn laut Aussage meines Freundes J. (gebürtiger Rheinländer) fand sich ein gleichbedeutendes Graffito auch in einer Bonner Bahnunterführung.
   Wir wissen es, sensible Gemüter haben es nicht leicht in peripheren Gebieten, ihr Ausdruck des Missempfindens ob gähnender Lethargie wird leicht als Vandalismus verunglimpft. Dabei ist sie oft nur ein Schrei nach sozialer Wärme. In Neumarkt St. Veit wie in Cassino.

NACHTRAG

Zahlen

- Gelaufene Kilometer auf der Strecke von Formia in Latium am Tyrrhenischen Meer nach Ortona in den Abruzzen an der Adria: 255
- Höhenmeter hinauf und hinab: 7600
- Gehzeit in Stunden: 86

Organisatorisches
- Fahrt von Regensburg nach Formia am 31. August mit dem Zug, Rückfahrt am 17. September von Pescara nach Regensburg, ebenfalls mit der Eisenbahn.
- Ja, wir hatten unser gesamtes Gepäck in unseren Rucksäcken täglich dabei.

DANK
Ohne die Zusammenarbeit mit unseren Freund*inn*en in den Abruzzen, ohne ihre Hilfe, ihre  sorgende Unterstützung, ihre guten Ideen, ihre Phantasie, mit der sie unser Programm tageweise bereicherten ... wäre das Projekt niemals in dieser wunderbaren Weise möglich gewesen. Leider mussten wir auf viele Umarmungen verzichten — Umarmungen, die dafür so sehr notwendig gewesen wären. Das vermissten wir am meisten. Doch die Zeit, in der wir wanderten, war überschattet von Corona.
Daneben gab es wundersame, meist kurze Begegnungen, die manchmal wie Perlen funkelten. Der Hirte aus Marokko am Pass oberhalb von Frattura, die freundliche lächelde Frau in Bugnara, die eigentlich nur wissen wollte, woher wir kämen, das Ehepaar vor Casalincontrada, das uns einen 5-Liter-Kanister eisgekühltes Zitronenwasser abfüllte, welchen wir während unserer Unterhaltung ratzeputz leerten, Nunzio, der uns durch sein Dorf führte, der Autofahrer, der uns unbedingt nennen wollte, in welchem Gasthaus er köstlich isst, die beiden Männer in Sulmona, die uns trotz ihrer Siesta ihre Eisdiele aufsperrten und viele andere.

Irgendwann realisierten wir auch, dass wir im Groben der sog. ›Gustav Linie‹ folgten, der Front im zweiten Weltkrieg, welche die Deutschen gegen die Allierten verteidigten und dabei entsprechend ihres menschenverachtenden Unterwerfungswillens viel Leid und Tod, viel Unglück und Zerstörung anrichteten. Unsere Wanderung war nicht als expilzites Friedensprojekt geplant, darf aber durchaus als solches verstanden werden. Letzter Satz geht auch an die Adresse unseres Wirtes Armando in Ortona, der uns am Morgen unserer Abreise, nach der Lektüre des Artikel über unsere Wanderung in der Zeitung »Il Centro« eine besondere Flasche Rotwein schenkte. Mit dem Etikett »Gustav« editiert die Kellerei in Ortona eine Weinline. Erinnerung an die Schlacht von 1943. Wer möchte vor diesem Hintergrund davon reden, unsere Vergangenheit sei bewältigt? Wir leben mit ihr. Bewusst und glücklich, dass es andere Zeiten sind.