Reise in das wilde Herz Italiens

Text als PDF-Download "Vergessen wir nicht, dass eine Luftlinie eben nur eine Linie und kein Weg ist und: dass wir, physiognomisch gesehen, Fußgänger und Läufer sind."

Christoph Ransmayr

Franco, der Bauer, hat sich behauptet. Auf dem Marktplatz von L'Aquila, der alten Hauptstadt der Abruzzen, sitzt er zwischen den sich weit ausbreitenden Ständen der Großmarkthändler auf seinem kleinen Holzschemel vor einer Obstkiste, die ihm als Verkaufstisch dient und seine bescheidene Ware anbietet: Fünf Laib des würzigen Schafskäses (Pecorino) liegen dort, eine eiserne Handwaage daneben. Hier unter dem ehrwürdigen Dom decken wir uns - auf Empfehlung unserer Reiseleitung - mit etwas Proviant für die Wanderungen der nächsten Tage ein: Käse von Franco, ein Stück Salami vom Metzger am Eck, sonnengereifte Tomaten, duftendes Obst und frisches Brot. Das Wasser aber werden wir aus den Quellen vor Ort schöpfen. Die einfache Wegzehrung stimmt uns ein, auf das, was das Land zu bieten haben wird: das Erlebnis des ungeheuren Reichtums eines Stücks unverfälschter Natur, einer bisweilen paradiesischen Landschaft und uralter Kultur. Dass L' Aquila unser Eintrittstor in die Abruzzen ist, hat natürlich nichts Zufälliges. Und es wird sich bald herausstellen, dass wirklich kein Ort dieser Studienreise nur aufs Geratewohl angesteuert wird. Alle Begegnungen, Plätze, Wanderwege und sogar die Stätten der Rast scheinen in ihrer Abfolge wohl gewählt und aufeinander abgestimmt. Auch dieser kurze Spaziergang durch die von vielen Erdbeben gezeichnete Stadt der 99 Quartiere, der 99 Glocken und 99 Quellen, will mehr als nur Stadtbummel sein: Die imposante Lage der Stadt unter dem gewaltigen Gebirgsmassiv des Gran Sasso lässt ahnen, wie sehr das Leben dieser Region von der Urgewalt der Bergwelt geprägt ist. Und die mit Bedacht eingelegten kunsthistorischen Stippvisiten machen schon am ersten Tag unserer kleinen Entdeckungsreise in diesen gern unterschätzten Landstrich Italiens deutlich, wie stark die Kultur in diese südländische Berglandschaft verwoben ist und wie sie gerade daraus ihre schöpferische Kraft gewonnen hat. Wen wundert es also, wenn wir den historischen Persönlichkeiten dieser traditionsreichen Città auch auf unseren Ausflügen in die Berge wieder begegnen werden: etwa jenem Einsiedler Pietro von Morrone, der in der berühmten Kirche S. Maria di Collemaggio im Jahr 1294 zum Papst Coelestin V. geweiht wurde, bevor er wieder in die Einsamkeit des nahen Maiellagebirges flüchtete. Ja, es sind große abruzzesische Namen, die uns in den nächsten Tagen auf ausgedehnten Wanderungen durch einzigartige Schluchten, tiefe Wälder und weite Täler, über erhabene Höhenrücken und scharfkantige Bergkämme hinweg begleiten werden. Es sind die Namen antiker italischer Völker wie der Marser oder Picener und historischer Persönlichkeiten wie des Hohenstaufers Friedrich II. Aber vor allem sind es die Namen großer Dichter, die der Landschaft und den Menschen der Abruzzen in ihren Werken ein Denkmal gesetzt haben. Sallust und Ovid aus römischer Zeit, Gabriele d' Annunzio und Ignazio Silone aus der jüngsten Vergangenheit. Gerade Letzterer bestätigt in seinen Texten, die wir in kurzen Lesungen während unserer Wandertouren kennen lernen, unsere ersten, noch flüchtigen "Eindrücke eines Reisenden". So schreibt Silone über die Menschen der Abruzzen: "Alles wird unerklärlich bleiben, wenn nicht in Erwägung gezogen wird, dass der konstante Faktor ihrer Existenz genau der primitivste und stabilste aller Elemente ist: die Natur." Vielleicht ist es deshalb auch der entscheidende Faktor für den Erfolg dieser Studienreise, dass sie die Begegnung mit der Natur zum Ausgangspunkt macht, um die Abruzzen für sich selbst zu entdecken. Schon nach einer Woche erkennt man an, wie viel für die Philosophie, sich eine Landschaft zu erwandern, spricht. Wann wird man Wolf, Bär und Adler je wieder so nahe sein wie hier? Und wo wird man wieder einmal solch mächtigen Buchen in noch mächtigeren Wäldern begegnen? Wird je eine Wanderung wieder an einem einzigen Tag über sonnenglühende Weinberge und schneebefleckte Felskanten führen? Welche Schlucht wird uns wieder einmal ein Blumenwiesenparadies aus Trollblumen, wilden Tulpen und Narzissen eröffnen? Und welche Eremitei liegt demnächst auf unserem Weg, um uns zu sagen, dass das einfache Leben nichts entbehren muss: nicht das Land, den Wind und das Wasser, nicht die Tiere des Waldes und nicht die Vögel am Himmel. Von Franz Biber, aus: eccetera, 7. Jahrgang, Nr. 4, erschienen im April 2000. Bericht über die gleichnamige Reise im Frühjahr 1999 von Erde und Wind ·