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Der Lockruf des Bären

Schon mal mit einem Bären am Mittagstisch gesessen? Keine Sorge: Er hat hervorragende Tischmanieren und weiß bestens über Schafe und Schafskäse bescheid. Ansonsten gehen die Bären den Wanderern aus dem Weg, wenn sie die Buchenwälder des Apennin durchstreifen und dessen Gipfel besteigen. All das können Sie erleben, wenn Sie mit Herbert Grabe in die Abruzzen reisen. Also: Rucksack packen, Wanderschuhe schnüren! Es geht in die Berge Süditaliens!

Wir fahren gegen den Strom. Wir fahren Richtung Abruzzen. Wir fahren also auf einer Straße der Emigration. Auf dieser Straße sind viele Abruzzesen ausgewandert und tun es heute noch. Sie wandern aus in die großen Städte Italiens, nach Deutschland, oder auch Amerika. In der Hoffnung ein besseres Leben zu finden verlassen sie ihre Heimat für immer. Am Anfang unseres Weges begleiten uns noch andere Reisende unterwegs nach Süden. Aber bevor wir in den Abruzzen ankommen, biegen sie nach links ab zu den Stränden, die weiß wie ihre Körper sind, oder sie biegen rechts ab, wo die Landschaft so klassisch und nobel wie ihr Wein ist.

Ehrenbürgerwürde für Madonna

Heute leben 1,28 Millionen Menschen in der Region Abruzzen, also 250000 weniger als vor 25 Jahren; man bedenke daß Pescara ,die größte Stadt in den Abruzzen, gerade 130.000 Einwohner hat. Der Großteil der Emigranten stammt aus dem Landesinneren, wo noch bis vor wenigen Jahren die Ökonomie von der Landwirtschaft bestimmt war. Unter den Zahlreichen, die aus dem Dorf Pacentro nach Amerika gingen, waren 1929 auch Michelina e Gaetano Ciccone. Ihre Enkelin Louisa Maria Ciccone ist inzwischen die Bekannteste Abruzzesin; Beruf: Megastar; Künstlername: Madonna. Die Gemeinde Pacentro hat ihr die Ehrenbürgerwürde verliehen, aber bisher kam Madonna noch nicht vorbei, um die Urkunde abzuholen.

Wir folgen. Wir folgen Herbert Grabe. Wir folgen also einem Menschen, der die Wanderweg der Abruzzen kennt, wie nur wenige andere. Wanderführer ist eher aus Leidenschaft, denn von Beruf. Schon in jungen Jahren bereiste er Italien von Südtirol bis Sizilien. 1986 überwältigte ihn die wilde Schönheit der abruzzesischen Berge. Dies veränderte sein Leben.

Leidenschaft und Glück

Damals war er Geschäftsführer des Bund Naturschutz Bildungswerk und organisierte Exkursionen im Rahmen der Umwelterziehung. Logischerweise wählte er dann auch die Abruzzen als Ziel der Reisen. Die Leidenschaft für diese Region und der Wunsch, ihre intakte Natur bekannter zu machen, um sie besser schützen zu können, brachte ihn dazu, ein Reiseunternehmen zu gründen, spezialisiert auf Wanderreisen in die Nationalparks der Abruzzen. Seine Unternehmen "Erde und Wind" ist sehr klein: der Sekretär, der Buchhalter, der Wanderführer und der Chef heißen alle Herbert Grabe. Er verließ einen sicheren Arbeitsplatz und fand etwas unbezahlbares: Glück.

Vor wenigen Jahren haben die Touristen den abruzzesischen Apennin entdeckt und sie haben dort etwas sehr wertvolles gefunden: die Natur. Ausgedehnte Wälder, wie man sie vielleicht in Kanada erwartet, während man in Europa nur schwerlich eine Anhöhe findet, von der aus nichts außer unendlichen Wäldern zu sehen ist, weder von Straßen noch Siedlungen unterbrochen. In der Höhe, wo die Bäume nicht mehr wachsen, fängt das Reich der Kräuter und Blumen an. Die Biodiversität ist enorm: Die Hälfte aller italienischen Pflanzenarten finden sich auch in den Abruzzen. Wegen der uralten Tradition ist in einigen Zonen der Nationalparks die kommerzielle Nutzung der natürlichen Ressourcen erlaubt, z.B. der Holzeinschlag, soweit mit dem Naturschutz bereinbar. Die extensive Weidewirtschaft und die biologische Landwirtschaft werden gefördert.

Begegnung zwischen Schaf und Mähdrescher

Eines der ganz wenigen Reiseunternehmen, das Ferien in den Abruzzen organisiert, ist Erde und Wind von Herbert Grabe. Seine Fahrten führen in die drei Nationalparks der Region. Die Natur der Parks ist aber nicht nur Beiwerk, sondern Herbert Grabe spricht auch über die Probleme und Erfolge des Naturschutzes, ihren Freunden und Feinden. Der große Feind der Natur in den Bergen ist der Skitourismus, für den Wälder gerodet und große Feriendörfer im pseudoalpinen Stil gebaut werden: ein irreparabler Schaden für das Ökosystem und eine Beleidigung für die Augen. Der Wandertourismus dagegen ist nachhaltig: "Jeder Euro den die Abruzzen außerhalb des Winters verdienen, hilft die Bergwelt zu erhalten." sagt Herbert Grabe.

Nach den Wanderungen mit mittlerem bis hohem Niveau wird in typischen Trattorien Rast gemacht; derb wie die Landschaft auch die Küche: Wildschweinwurst, Innereien vom Lamm und das Ragout scheint das Ergebnis eines fatalen Zusammenstoßes zwischen Mähdrescher und Schaf zu sein. Es auch feinere Früchte: orapi (zarter, wilder Spinat), Ravioli mit Schafsricotta gefüllt, Gnocchi aus Kartoffeln mit einem Kräuterpesto, das die Biodiversität des Parks widerspiegelt und im Herbst Trüffel ohne Ende.
Wir kehren zurück. Wir kehren zurück in die Vergangenheit. Wir kehren zurück in eine Vergangenheit, die uns bukolisch erscheint: ohne Verkehrslärm, weg von der verdreckten Stadt, in der man eigentlich nicht leben kann, mit natürlicher Nahrung, handgemacht. Es sollte uns komisch vorkommen, dass wir dieses Arkadien im klimatisierten Reisebus erreicht haben, auf gut asphaltierten Straßen, dass wir Funktionskleidung tragen, dass wir fließend warmes Wasser im Hotelzimmer haben. Schließlich verstehen wir, dass jene Vergangenheit weit weg ist und wenn es sie noch gäbe, würden wir alles tun, sie zu ändern.

Mittagessen mit dem Bären

Etwa hundert Bären durchstreifen die Wälder des Abruzzen-Nationalparks. Beim Mittagessen haben wir einen davon kennen gelernt: 2 Meter groß, 3 Zentner schwer und sehr freundlich. Sein Körper ist etwas unproportioniert, da ein Großteil seines Gewichts am Bauch und in den Pranken angehäuft ist. Er heißt Gregorio Rotolo. Dieser Mann, der aussieht wie ein Bär, ist Schäfer, wenn wir ein romantisches Bild des ländlichen Lebens zeichnen wollen. Er selbst sieht sich als Agrarunternehmer, genau genommen betreibt er biologische Landwirtschaft. Er züchtet 1600 Schafe und 40 Kühe und produziert verschiedene Käse- und Ricottasorten. "Alle meine Käsesorten sind aus Rohmilch. Jeder Laib hat einen anderen Geschmack, je nach der Weide, auf der die Schafe gefressen haben." erzählt Rotolo mit seinem weichen abruzzesischen Tonfall. Ähnliche Zusammenhänge sind wir sonst nur beim Wein gewohnt. Außer den Milchprodukten verkauft er auch Schafsfleisch und -würste.
Dr. Manuela Cozzi ist wegen der Wissenschaft zum ersten Mal in die Berge gekommen, als sie noch an der Uni in Florenz arbeitete. Die Faszination der intakten Natur hat sie dazu gebracht, die Stadt zu verlassen und nach Anversa degli Abruzzi in der Provinz L'Aquila umzuziehen. Nun betreibt sie zusammen mit ihrem Mann Nunzio Marcelli den Bioagriturismo "La Porta dei Parchi".

Adoptiere ein Schaf!

Sie hatten eine brillante Marketing-Idee: "Adoptiere ein Schaft, schütze die Umwelt!". Wer 190 Euro pro Jahr investiert, wird Papa oder Mama eines Schafes. Er gibt ihm einen Namen und erhält neben den Adoptionszertifikat und dem Foto die Erzeugnisse: 3 kg Käse, 1 kg Ricotta, Strümpfe (oder die entsprechende Menge Wolle) und auch ein Lamm (wer will). Das Projekt hilft dem Überleben der uralten Kultur der extensiven Weidewirtschaft und schützt die Umwelt. Eine schöne Idee - ein enormer Erfolg: Die New York Times und auch BBC und CNN haben Manulea interviewt und die Schafe gefilmt. Daher kommen nun Adoptions-Anfragen aus aller Welt. Auch Amerikaner, Japaner und sogar Australier sind unter den Schafseltern. 800 Schafe sind schon adoptiert worden, 400 sind noch Waisen. Um ein wolliges Kind zu adoptieren einfach die Seite www.adottaunapecora.it besuchen.

Sichten und Visionen

Wir halten an. Halten an auf dem Gipfel des Monte Marcolano. Halten an, um das Land um uns herum zu schauen, frei von Spuren des Menschen, frei von Anzeichen der Zivilisation. Wir sind still. Still um die Stille zu hören, die vom süßen Gesang der Grillen gewürzt ist. Und doch sehen wir im Talgrund zwei Häuser und eine Straße, die in ein Dorf führt, welches umgeben von Gärten und Weiden. Wir sehen einen Schreinerbetrieb und einen Goldschmied, Bars, ein Hotel. Wir verstehen, dass hier die Leute mitten in der Natur leben, mit der Natur leben und doch auf den Komfort der heutigen Zeit nicht verzichten.
Morgen steigen wir in den klimatisierten Reisebus. Wir kehren zurück in die Stadt, um den ganzen Tag auf den Computerbildschirm zu starren, während wir unsere Lungen mit Abgasen füllen. Es bleibt die schöne Erinnerung und die Lust zurückzukehren.

Franco Tassi

Eine lebende Legende des Naturschutzes in Italien. 33 Jahre lang streitbarer Chef des Nationalparks Abruzzen, auch in den problematischen 70er Jahren; die Menschen in den Dörfern des Parks noch wenig von der Notwendigkeit des Naturschutzes überzeugt. Warum die Bären schützen, wenn sie die Schafe fressen? Warum nicht mehr Touristen mit neuen Skipisten anziehen? Tassi hat eine sehr effektive PR gemacht. So hat er an die Freundschaft des Hl. Franz mit den Tieren, einschließlich dem Wolf, erinnert, statt das absurde Märchen von Rotkäppchen zu erzählen.
Außerdem hat er 1300 Gerichtsprozesse geführt - und alle gewonnen. Er ist so integer wie konsequent: Er ist wohl der einzige in Italien, der ein Urteil gegen Schwarzbauten hat vollstrecken lassen, indem er das illegale Feriendorf niederreißen ließ. Er hat Morddrohungen erhalten, aber er hat sich nicht abbringen lassen. Schließlich hat der Cavaliere Berlusconi Tassi im Jahre 2002 abgesetzt, ein Jahr vor seiner Pensionierung. Aber die Bevölkerung im Nationalpark hat die Ideen des Naturschutzes inzwischen verinnerlicht. Der Rückwärtsgang lässt sich nicht mehr einlegen.


Benno Zimmermann in: onde, das italienische Kulturmagazin
November 2004

www.onde.de