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Mainpost, Würzburg, Samstag, 30. Oktober 2004

Der Blick fürs Kleine in der großen Weite

Mit Herbert Grabe führen Wanderungen durch die Abruzzen auf spannende Wege

Von unserem Redaktionsmitglied Michael Mahr


Gelb und rot leuchten die Orchideenblüten am schattigen Wegrand. Wer sich zu ihnen hinunterbückt, riecht den zarten Duft von Holunder, der von ihnen ausgeht. Das Holunderknabenkraut wird als Attraktion einer Wanderung im Herzen Italiens, in den Abruzzen, nur wenige Hundert Meter weiter von einer Pflanze abgelöst, die alle aus dem heimischen Garten kennen. Herbert Grabe, Reiseveranstalter und Wanderführer aus Donaustauf, führt die Gruppe zu blühenden Pfingstrosen. Im Dämmerlicht des dichten Buchenwaldesleuchten einzelne, purpurne Blüten. Geheimnisvoll und zart - ein großer Gegensatz zu den mächtigen, robusten Büschen im Garten zu Hause mit ihren dick gefüllten Knospen. Die weißen Blüten des Affodil auf einer kreisrunden Waldwiese, ausdauernd von Insekten umschwirrt, finden nicht ganz die gleiche Aufmerksamkeit. Dabei wachsen sie in einer gespenstischen Szenerie. Die Wiese ist von einem Kranz Buchen umgeben, die der Herbst scheinbar schon eingeholt hat: Alle Blätter sind welk. Nur wenige Meter weiter trägt der Wald jedoch ein grünes Blätterkleid. Extrem kalte Luft hat sich bei einem Schlechtwettereinbruch am Grund der Senke gesammelt und die Frostschäden hervorgerufen. Bäume weiter oben sind nicht betroffen.

Flora, Fauna, Frost.

Wenig später ist die Welt wieder in Ordnung. An einem Wasserlauf begutachten wir Wanderer Molche mit einer Begeisterung, die der von Jugendlichen auf der Jagd nach Kaulquappen wenig nachsteht. Eine andere Beobachtung löst kurz zuvor eine lebhafte Diskussion aus. Das Thema ist anrüchig und liegt mitten auf dem Waldweg: Ein großer Haufen Kot wird mit einem Ästchen zerteilt, sein Inhalt untersucht. Was daheim in der Stadtvermutlich Ärger ausgelöst hätte, wird bei einer Wanderstudienreise mit Herbert Grabe plötzlich zum spannenden Thema. Denn es könnte sich um die Hinterlassenschaft eines Wolfes handeln. Die wilden Verwandten unserer Hunde haben auf dem italienischen Stiefel bis heute überlebt. Nur 150 Kilometer östlich von Rom streifen sie durch Wälder, in denen sich auch noch Braunbären verstecken. Diese beiden Tierarten waren ein Grund, dass im Süden der Region bereits1923 ein Schutzgebiet eingerichtet wurde, der Abruzzen-Nationalpark. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre haben die linken und linksliberalen Regierungen in Rom und L'Aquila drei weitere große Schutzgebiete eingerichtet: den Regionalpark "Sirente-Velino" und die Nationalparks "Majella" sowie "Gran Sasso und Laga-Berge". Auch über die Gefahren, die den neuen Schutzgebieten unter der Berlusconi-Regierung schon wieder drohen, berichtet Herbert Grabe und weitet so den Blick von der Naturschönheit im Detail bis zur Umweltpolitik. Seit Mitte der 90er Jahre bietet der frühere Geschäftsführer des Bildungswerks des Bund Naturschutz Wanderreisen an. Im Gegensatz zu großen Reiseveranstaltern ist er nicht überall von den Kanaren bis in den Himalaja aktiv. Er konzentriert sich auf eine kleine Region in Italien - auf die Abruzzen. Die kennt er dafür wie seine Westentasche. Die Zahl der Schafe, die einst im Sommer von den Ebenen Apuliens in diese Berge zogen? Grabe hat sie im Kopf. Drei Millionen waren es. Allenfalls ein Zehntel ist davon heute übrig. Nur noch 5000 weiden rund um das Dorf Castel del Monte, bedauert Giacomo Saselli. Der Besuch bei Grabes Freund, Mitgesellschafter einer Kooperative außerhalb des Dorfs erlaubt einen kleinen Einblick in die Existenzbedingungen der Menschen in den Abruzzen.

Menschen und Dörfer

Für die ist das Fleisch der Lämmer nach wie vor eine Grundlage der regionalen Küche. Noch größere Bedeutung hat die Milch der Schafe, die zum typischen Käse, dem Pecorino, verarbeitet wird. Laiber in drei Größen werden im Laden der Kooperative im Dorf in unterschiedlichen Reifegraden verkauft. Direktvermarktung wie in Castel del Monte ist ein Versuch, der Entvölkerung der Dörfer entgegen zu wirken. Im Nachbardorf Santo Stefano di Sessania stellt Grabe einen anderen Ansatz vor. Daniele Elow Kihlgren, ein reicher Industriellenerbe aus Pescara, versucht es hier mit einem Hotelprojekt. Er hat mehr als ein Dutzend Häuser gekauft und lässt sie nun mit alten Techniken restaurieren. Sie sollen schon 2005 Gäste aufnehmen und so Arbeitsplätze schaffen und für regionale Wertschöpfung sorgen. Früher sorgte dafür auch die Kirche. Die vielen romanischen Kirchen, die in den Bergdörfern im Lauf der Zeit errichtet wurden, sind heute willkommener Anlass für einen Zwischenstopp. Etwa in Santa Maria ad Cryptas in Fossa, wo Fresken die Tätigkeiten der Bauern im Lauf der zwölf Monate eines Jahres darstellen - eine Art Wandkalender aus dem 13. Jahrhundert. Von der Kirche geht der Blick zum Gran-Sasso-Massiv jenseits des Tals. Den östlichen Eckpfeiler der Bergkette bildet der Monte Camicia, der auch bergsteigerisch ambitionierte Wanderer auf ihre Kosten kommen lässt. Der2565 Meter hohe Gipfel ist immer im Blick. Von den Hügeln oberhalb Santo Stefanos ebenso wie von den Wiesen unterhalb Castel del Montes oder der Ebene Campo Imperatore, auf der schon Kaiser Friedrich II. zu Jagd gegangen sein soll. Nur ein bisschen Kondition ist nötig, um die großartige Szenerie der Abruzzen zu genießen, mit einem schwindelerregenden Tiefblick über die mehr als 1000 Meter hohe Nordwand hinunter zur Adria.

Tipps zum Trip

Information:
Wanderstudienreisen Erde und Wind, Herbert Grabe, Bayerwaldstraße 33, 93093 Donaustauf, (09403) 969254, Fax 969255. Internet: www.erdeundwind.de
Region Abruzzen: www.regione.abruzzo.it/turismo/de
Nationalpark Gran Sasso und Laga-Berge: www.gransassolagapark.it (nur italienisch)

Wanderreisen: Herbert Grabe bietet seit 1995 Wanderstudienreisen in dieAbruzzen an, sein Programm für 2005 ist gerade erschienen.
"Die schöne Schlafende" heißt die Wanderwoche im Gran-Sasso-Massiv. Nächste Termin esind im Mai und im Juni 2005. Die Tour kostet mit Busfahrt ab München oder Regensburg rund 800 Euro. Etwa gleich viel muss man auch für die Wanderwoche "Berge, Buchen, Bären" im Abruzzen-Nationalpark ausgeben oder für die Tour "La Majella, Il Sirente" in den beiden gleichnamigen Berggruppen der Abruzzen. Beide werden ebenfalls im Mai und Juni 2005angeboten.

Reisezeit: Das späte Frühjahr und der beginnende Sommer sind eine ideale Reisezeit. Die Wiesen sind übersät mit blühenden Kreuzblumen, Orchideen, Enzianen und anderen botanischen Raritäten. Die Sonne brennt noch nicht vom Himmel. In den Hochlagen sind die Schneefelder bereits weitgehend weggetaut.

In den Rucksack: Wer sich für Flora und Fauna der Abruzzen interessiert, sollte Bestimmungsbücher nicht vergessen, um Brand- oder Holunder knabenkraut, Mückenhändelwurz oder Pyramidenorchis unterscheiden zu können. Ein Fernglas im Rucksack tut gute Dienste bei der Beobachtung von Gemsen, Adlern oder auch Wildschwein-Herden, die manchmal über die Wiesen des Campo Imperatore galoppieren.