FIKTIVES REISETAGEBUCH 2020

SIZILIEN. DIE INSEL IN DER MITTE DES MEERES

Palermo, Samstag/Sonntag, 18./ 19. April 2020 (vorhergehender und erster Tag)
Ich bin auf dem Weg zur ersten Sizilien-Gruppe dieses Jahres und ich nehme den Zug, um nicht ständig fliegen zu müssen. Als zwischen Bologna und Rom die mittelitalienische Landschaft an mir vorüber zieht, werden Gedanken an meine erste Sizilien-Reise wach.
   1977 war ich mit meinem Bruder auf der gleichen Strecke — von Amberg nach Agrigento — unterwegs. Umstieg in München, langer Aufenthalt am Brenner, eine kurze Pause in Trento. Wir trafen Freunde, die für uns Liegewagenkarten ab Bologna gekauft hatten, weil das von Deutschland aus nicht möglich war. In Bologna stiegen wir nochmals um und waren mit vier Schweizern, die ebenfalls in den Süden Italiens wollten,
nun zu sechst im Abteil. Der Bruder und ich nahmen die obersten Plätze; die Schweizer baten uns darum, damit sie unten ungestört Karten spielen konnten. Sie luden uns zu Wein und Käse ein, doch weil es schon spät war, kletterten wir alsbald hinauf, um zu schlafen. Als ich morgens die Augen öffnete, fuhr der Zug aus Rom heraus, langsam rollte er durch triste Vororte. Gelbbrauner Putz, meist schmutzig meliert, ein Meer von Fernsehantennen und viel Wäsche, die zum Trocknen in den Fenstern, auf den Balkonen und über den Straßen hing. Eine eher abweisende Umgebung. »Hier willst du leben?«, fragte der Bruder verständnislos, nachdem er ebenfalls aufwachte und sich über die Liege hinunter zum Fenster beugte. Ich hatte ihm erzählt, über einen Aufenthalt in Italien nachzudenken. Vielleicht zum Studieren. Rom jedenfalls verabschiedete sich mit weit ausfransenden Vororten. Auf Höhe von Terracina fanden auch die Schweizer in den Tag und in Neapel saßen wir gemeinsam auf den unteren Bänken und frühstückten.
   Nach einer Stunde kam erneut
die Küste in Sicht, aber der Blick aus dem Fenster zeigte oft nur enttäuschende Kombinationen: Meeresbrandung, schmaler Streifen Land, entsetzlich viel Müll, Feigenkakteen im Wechsel mit dünnen Koniferen, armselige Bebauung, wenig nicht zersiedelte Landschaft. Der Mezzogiorno lag im Mittagslicht und Kalabrien schien kein Ende zu nehmen. Der Zug hatte bereits über eine Stunde Verspätung eingefahren, ich bezweifelte, ob wir es noch schaffen würden, in Palermo ein Zimmer zu bekommen. Dann Reggio Calabria, die Überfahrt nach Sizilien. Der Zug wurde auf die Fähre verladen, wir durften nicht hinaus, mussten im Abteil bleiben. In Messina drehte sich die Wagonrichtung, ein kurzer Halt, die späte Nachmittagssonne fiel auf die Bahnsteige und nun schien alles ganz schnell zu gehen. Ich stellte mich auf den Gang, um die Küste zu sehen. In Termini Imerese sagte der Schaffner, es sei nun nicht mehr weit.
   Palermo lag im Dunkel des Abends, war laut und schmutzig und schon auf den ersten Metern vom Bahnhof in die Stadt schockierte uns die Armut, mit der wir konfrontiert wurden. Eine Woche später waren wir in Catania, nach Palermo und drei Tagen Caltanissetta wollten wir uns noch an der Ostküste umsehen. Catania wirkte reizvoller als Palermo, eingequetscht zwischen Ätna und Meer mit abwechslungsreicher Topografie. Die Architektur wegen des verwendeten Lavagesteines schwarz und mächtig. Im Bus zum Ätna lernten wir ein Paar aus Frankfurt kennen, er Lokführer, sie Büroangestellte. Dazu eine Lehrerin, ebenfalls  aus Hessen. Wir sprachen über Palermo. Die Lehrerin erzählte von einem alten Mann, der ihr auf der Straße entgegen kam, es war augenscheinlich, dass er hungerte. Sie kaufte ihm ein Stück Pizza und eine Flasche Wasser, setzte sich zu ihm auf die Bank, als er aß. Unsere kleine Gruppe blieb den Tag über zusammen. Wir fuhren bis zur Endhaltestelle hinauf den Ätna, dann mit dem Jeep, bis der Führer das Fahrzeug stoppte und wir
weiter zu Fuß stiegen. Die Luft roch nach Schwefel, warme, feuchte Schwaden wehten durch unsere Haare, die sogleich gefroren. Es war kalt auf dem Gipfelplateau, gut dreitausend Meter über dem Meer. Der Kraterrand war weniger spektakulär als erwartet, doch die Gerüche, der Nebel und die Vorstellung, auf diesem mächtigen Vulkan zu stehen, ließen fast ein wenig Angst aufkommen. Was nun, bräche der Ätna gerade jetzt aus?
   Am Abend, zurück in Catania, aßen wir auf dem Hotelbalkon. Der Bruder hatte gegenüber in der Glastheke eines Forno eine zubereitete Lasagne entdeckt. Eine Flasche Wein dazu, den Blick auf die Straße gerichtet, auf die vielen Menschen, auf die Autos und ihre Lichter. Wir sahen weite Ausschnitte der Stadt, weil das Hotel auf einer Anhöhe lag. Nach der eigenartigen Stille auf dem Berg tat der Lärm jetzt gut. Einige Tage später
verließen wir Sizilien mit dem Gefühl, einen Ausschnitt sehr fremden Italiens erlebt zu haben. Der Bruder sagte noch Jahrzehnte später, dass die Pasta al forno ein lukullischer Höhepunkt war. Mir blieben die Brückentorsi der Autobahnen in Erinnerung.
   Daran muss ich denken und, dass die Bilder der Reise vor über dreißig Jahren sich ab jetzt wohl deutlicher einstellen werden, weil ich zum ersten Mal seit damals wieder mit dem Zug so weit im Süden Italiens unterwegs bin. Kurz vor Mitternacht, als ich Rom im Schlafwagen nach Palermo verlasse, vergesse ich die Vergangenheit. Neapel nehme ich noch wahr, dann schlafe ich ein. Die Nacht im Zug wird unruhig und kurz vor der Überfahrt auf die Insel bin ich wieder wach. Ich lasse den Rest der Strecke eher passiv an mir vorbei ziehen. Noch eine Stunde bis Palermo. Ich packe meine Sachen, stelle mich auf die Gruppenreise ein, gehe nochmals die Teilnahmeliste durch und kontrolliere ein paar Telefonnummern. Der Zug erreicht Palermo fast pünktlich nach siebenundzwanzig Stunden Reisezeit.

Palermo, Montag, 20. April 2020 (zweiter Tag)
Zum Glück ist Leoluca Orlando heute Vormittag irgendwo in Palermo unterwegs. Denn säße der Bürgermeister im Rathaus, beträten wir weder sein Büro noch stünden wir vor seinem Schreibtisch. Aber wer weiß, hätten wir ihn vor der Tür getroffen, hätte er uns zumindest ein paar Anekdoten über seine Erlebnisse mit den Deutschen erzählt. Denn die Verbundenheit Herrn Orlandos mit unserem Land wurzelt in seinem Studium in Heidelberg, er ist zudem ein häufiger und gern gesehener Gast zwischen Hamburg und München. Sein offener Geist, seine demokratische Integrität, seine Liberalität und Mitmenschlichkeit haben ihn zu einer Art Leuchtturm stilisiert.
   Vor etlichen Jahren erlebe ich ihn in Regensburg zwei, drei Male als Gast der dortigen Deutsch-Italienischen-Gesellschaft. Es sind offizielle Termine mit Leoluca Orlando als dem guten Menschen von Südeuropa. Das deutsche Publikum in Andachtslaune, die Atmosphäre feierlich, das Klima meist sehr steif.
   Interessanter sein Auftritt in den neunziger Jahren in einem Dorf namens Hausen im Niederbayrischen, etwa dreißig Kilometer von Regensburg entfernt. Dort wird — im Nachhinein betrachtet, wohl versehentlich — ein Grüner zum Bürgermeister gewählt. Als Franz Petschel nach sechs Jahren erneut kandidiert, verspricht ihm Leoluca Orlando Unterstützung und lässt es sich nicht nehmen, einen Wahlkampfauftritt als Hauptredner in Hausen zu absolvieren. Die beiden Kommunalpolitiker haben sich bei einer anderen Veranstaltung kennen- und schätzen gelernt. Einige ironische Spitzlichter fallen auf die Geschichte: Die Veranstaltung muss im Nachbarort stattfinden, weil Hausen selbst keinen öffentlichen Raum in dieser Größe besitzt. Gut 95 Prozent des Publikums kommen nicht aus Hausen, sondern aus ganz Bayern und die meisten wollen primär Leoluca und sekundär den grünen Kandidaten hören. Vielleicht leidet die Rede Orlanos ein wenig an seinem Akzent und auch die Diskussion ist etwas zu holprig. Erst als sich ein italophiler Gast mit vorzüglichen Italienischkenntnissen erbarmt und den Rest des Abends als Übersetzer wirkt, schaukelt sich die Sache. Leider wird der Grüne nicht in seinem Amt bestätigt. Er geht wieder in seinen Beruf als Schreinermeister und nach Hausen kehrt die Ruhe zurück, die durch das farbige Intermezzo gestört ist. Freunde allerdings sind die beiden, Orlando und Petschel, noch heute.
   Das Rathaus von Palermo also als Auftakt, es folgen die Kirche San Cataldo, das Teatro Massimo, der Capo-Markt und der Dom. Nachmittags besuchen wir eine kirchliche Sozialeinrichtung, welche nicht nur eine Art Vorzeigeprojekt gegen die Mafia darstellt. Das Centro Padre Puglisi ist eine Institution im palermitanischen Stadtteil Brancaccio, die seit fast dreißig Jahren sehr erfolgreich daran arbeitet, der Mafia den personellen Boden zu entziehen. Es ist ein kirchliches Sozialzentrum, 1991 von dem Priester Guiseppe Puglisi gegründet.

Palermo, Dienstag, 21. April (dritter Tag)
Sich Goethe zu entziehen, fällt Bildungsreisenden in Italien stets schwer, noch dazu, wenn sie aus Regensburg stammen. Auf den Weg nach Arkadien nämlich notiert der Meister am 4. September 1786, dass Regensburg schön läge, die Gegend eine Stadt herlocken musste. Ihn jedoch lockte das ganze Italien, nach Aufenthalten in Verona, Venedig, Ferrara, Rom und Neapel erreicht er am 2. April 1787 Palermo. Vor zwei Tagen bin ich aus Regensburg angereist und heute entsinne ich mich des Goethe-Worts vom schönsten Vorgebirge der Welt. Er lobt den Monte Pellegrino, den palermitanischen Hausberg. Ein Grund mehr, die Wanderung auf den Pellegrino ins Programm aufzunehmen.
   Anders als zu Goethes Zeiten bringt uns ein Bus aus der Stadt heraus, zum Largo Antonio Sellerio. Dort beginnt der Wanderweg, der in knapp zwei Stunden im Zickzack zur Wallfahrtsstätte führt. Wallfahrtsstätte? Ja, der Hausberg ist auch Heimstätte der Hausheiligen von Palermo, Santa Rosalia. Eine verschlungene Geschichte, umwegiger als unsere Tour. Jedenfalls ist die Sicht exorbitant, links das Meer, vor uns die lang gezogene Küste in Richtung Messina, rechts das Binnenland mit Hügeln und Bergen. Palermo liegt zu unseren Füßen und wirkt kompakter als gedacht.
   Weiter und offener erscheint uns das »Moltivolti«, das wunderbare Kulturzentrum in der Via Guiseppe Mario Puglia. Nicht weit von unserem Hotel, an einem der Enden des Ballarò-Marktes. Die halbe Belegschaft kommt aus Afrika. Emigranten werden hier zu Einwanderern, getreu dem Wort des Bürgermeisters: Wer in Palermo lebt, ist Palermitaner*in. Nicht nur die Rezepte ihrer Küchen haben sie mitgebracht, auch ihre gute Laune ist spürbar und schwingt gleich der Raumdekoration wellenartig durch das Restaurant. Oft bin ich skeptisch, wenn italienische Küche Fusionen mit Gerichten anderer Provenienzen unterworfen wird, hier verbinden sich sich die Einflüsse vorteilhaft. Nur der Wein ist von eindeutiger Herkunft. Aus Sizilien, aus der Nähe, aus besonderen Zonen: Die Reben werden auf befreitem Land angebaut, das einstmals Mafia-Clans ihr Eigen nannten. Morgen werden wir mehr davon hören (und schmecken).

Palermo, Mittwoch, 22. April 2020 (vierter Tag)
Wir bewegen uns antizyklisch. Während die Menschen von außen in die Stadt strömen, verlassen wir sie über den Corso in Richtung der Piazza Independenza. Es ist neun Uhr morgens. Südlich der Conca d’Oro, dem Goldenen Becken, wie die Ebene auch genannt wird, in der Palermo liegt, beginnen sogleich die Berge, in denen wir heute wandern. Giuseppe, der Busfahrer, bringt uns auf die Piana degli Albanesi. Es geht zügig hoch, auch nach der Ausfahrt von der Schnellstraße, bis wir schließlich das Mahnmal an der Portella della Ginestra erreichen.
   Ein Mahnmal? Auf der Hochebene zwischen den Bergen fand hier am 1. Mai 1947 ein Massaker statt, als von der Mafia gedungene Banditen mit Waffengewalt eine Versammlung von Bauern auflösten und dabei elf Tote und viele Verletzte in Kauf nahmen. Den Opfern zu Ehren wurde 1979/80 das Memorial errichtet. Wir sehen beeindruckende Steinstelen mit Inschriften, die Anlage ist eine würdige Erinnerung. Links davon beginnt unser Pfad, vorbei am kegeligen Monte Pelavet. Unser Ziel ist der Kamm der Sierra Pizzuta, ein Kalkmassiv in Nord-Süd-Ausrichtung. Wir folgen der Forstpiste, bald gestattet die Route traumhafte Blicke zunächst zu den Bergen im Westen und dem Golf von Castellamare, dann nach Norden, auf Palermo. Oben angekommen, vervollständigt sich das Panorama mit dem See und dem Altopiano von Albanesi im Osten. Herrlich. Wir rasten, machen Brotzeit und ich lese ein paar Seiten aus »Die Mühlen des Herrn« von Andrea Camilleri. Zurück geht es auf fast gleichem Weg, der nun neue Sichtachsen in anderem Licht offenbart.
   Um drei Uhr werden wir zum Mittagessen erwartet, vorher haben wir noch Zeit, durch den steinernen Erinnerungspark des Memorials zu streifen. Dann öffnen sich die Türen des Agriturismo »Portella della Ginestra«. Der Betrieb gehört zur Organisation »Libera Terra«, er birgt ein Restaurant und drei Gästezimmer. Ein besonderer Ort, das Anwesen ist eine der Liegenschaften, die der Staat aus mafiösen Strukturen gelöst und einer Kooperative zur Bewirtschaftung anvertraut hat.
   Unsere Speisekarte liest sich so: »Antipasti: Conetto di sfoglia con ricotta, cime di rapa, asparagi e caprino, Involtino di melanzana gratina al caciocavallo con pancetta e primosale, Sfincione / Primo: Caserecce con crema di zucca al marsala e scamorza affumicata / Secondo: Agnello alla brace, Patate al forno alle erbe aromatiche / Dolce: Cannolo / Vino: Centopassi Placido Rizzotto rosso / Caffè«. Ich übersetze das nicht, vielleicht tun Sie das, liebe Leserin, lieber Leser — doch zwei Anmerkungen sollen sein: Das Lamm ist von den Weiden ringsum und der Wein (Centopassi) eine Marke von Libera Terra. Wir schwelgen und ich beschließe, immer, immer wieder hierher zu kommen.

Palermo/Siracusa, Donnerstag, 23. April 2020 (fünfter Tag)
Wie hat uns die Stadt überrascht. Lebendig, hoch frequentiert, international, gut organisiert, dynamisch sich verändernd, ein unerwartetes kulturelles Crescendo. Und dass die wichtigsten Verkehrsachsen um die ›Quattro Canti‹, der Mitte der Stadt, auch noch frei von Autos sind (ich habe das Palermo der Siebziger mit grauenhaftem Verkehr in Erinnerung), lässt Menschen und Straßen aufblühen.
   Addio, Palermo, wir reisen weiter. Dreieinhalb Stunden Busfahrt in Richtung Osten. In der Mitte der Insel und zur Hälfte der Strecke unterbrechen wir in Enna. Zwei Gründe gibt es dafür: Eine Freundin erzählt, vor dreißig Jahren hätte ihr Zug am Bahnhof von Enna eine Stunde gehalten, eine entsetzliche Glocke habe die ganze Stunde gebimmelt und dieser Eindruck sollte doch zu revidieren sein. Ich hingegen möchte endlich wissen, wie diese Stadt, deren Namen ich schon in hundert Kreuzworträtsel eingetragen habe, aus der Nähe aussieht. Aus der Ferne wirkt sie anziehend. Hoch oben auf einem Tafelberg gelegen, direkt über Bahnstrecke und Superstrada erratisch sich ausdehnend. Die Aussicht über die hügelige Mittelgebirgslandschaft muss fantastisch sein.
   Es kommt, wie es kommen muss. Wir verlassen Palermo unter warmer Sonne, Enna liegt im Nebel. Unbeirrt beordern wir den Busfahrer (heute heißt er Franco) die Serpentinen hinauf in die Stadt — in der Hoffnung, dass Enna über dem Nebel liegen könnte. Leider ist sie dick eingepackt in graue Feuchte und so verirren wir uns anstelle zur Piazza Belvedere auf die Piazza Duomo. Wir haben Glück, das ehrwürdige Haus ist noch eine halbe Stunde geöffnet. In seinem Inneren ergreift uns das Gefühl, ganz unvermutet einem Hochamt der Kunst beizuwohnen. Die Holzkassettendecke des Mittelschiffs hängt mit Macht über uns, Schiffe, Apsiden und Altäre veranschaulichen die (Kunst-)Geschichte der Kirche. Gemälde von Guglielmo Borremans und Francesco Mancino, Statuen von Gagini. Die rechte Seitenapsis präsentiert große Ölbilder von Filippo Paladini, einem Meister des Manierismus. Nachdem uns der Kustode zu verstehen gibt, es sei Siesta-Zeit, ziehen wir in eine Bar auf der Piazza um und finden wenig später im Nebel zum Bus zurück.
   Mit jedem Kilometer in Richtung Küste wird das Wetter wieder besser und zwischen Catania und Siracusa kehrt die Sonne zurück. In Siracusa selbst, dem Ort für die kommenden sechs Tage, begehen wir den Abend in einer Art Aquarium. Moderne Architektur hat es schwer in der barocken Stadt. Doch am Rand der Altstadt, direkt am Wasser, steht ein kubistischer Restaurantwürfel. Gegenüber glitzert die Neustadt, vor uns schlagen die Wellen, rechts geht es aufs Meer hinaus und links wissen wir unser Hotel am Lungomare. Neben reichlich vegetabilen Antipasti werden passend zum maritimen Ambiente auch vorzügliche Tintenfische auf geröstetem Brot gereicht. Mir fällt auf, dass Kellner und Kellnerin trotz ihrer Freundlichkeit anfangs sehr reserviert sind. Ob sie nicht glaubten, dass deutsche Wandersleute auch wertschätzende Kulturreisende sein können? Wer weiß, was sie beeinflusste ...

Siracusa, Freitag, 24. April 2020 (sechster Tag)
Ich darf nicht vergessen, von Pietro zu erzählen. Bei einer Vorbereitungsreise in Sizilien spazieren wir durch den morbiden Barock Siracusas. Mir fällt die Ladenwohnung in der dunklen Gasse auf, die vom Meer zum Apollotempel führt. Oft ist ihr unerbittlicher Metallrollo geschlossen. Wer kennt das Geräusch dieser Falltüren nicht, ihr lautes Rasseln und Kreischen beim Öffnen und Schließen gehört zu den Klangfarben des Landes. Jedenfalls, nicht weit vom Tempel wohnt Pietro in seiner düsteren Flucht und wenn besagtes Portal offen steht, gibt es den Blick auf einen seltsamen Salon frei. Freund U. bezeichnete sie als Fußballverehrungsstätte; es ist die Heimstatt eines Circolo, in dem nichts anderes als das Lied auf den Calcio, wie dieser Sport in Italien heißt, gesungen wird. Links ein Tresen, dahinter die Enblembänder von Vereinen, Fotos der Stars dazu, Urkunden, Wimpel, die gesamte Wand ist mit Devotionalien dekoriert. Rechts eine Sitzgruppe mit Tisch, darüber ein Fernsehapparat. Der vordringende Geruch: kalter Rauch. Die Stimmung: ein wenig verloren. Pietro steht oft wie wartend in der Tür oder er bereitet sich im Salon auf die Abende vor, an denen er Gäste um sich schart. Meist dann, wenn im Fernsehen wichtige Spiele übertragen werden.
   Vor zwei Jahren, in Regensburg finden die alternativen Fußballmeisterschaften statt, in denen Kneipenmannschaften oder sonstige unorthodoxe Teams gegeneinander kicken, betrete ich Pietros Stätte. Wir kennen uns schon, er weiß, dass ich seinem Alltag Sympathie entgegen bringe. Ich frage ihn, ob er eine Grußbotschaft nach Regensburg sprechen würde, das ich mit meinem Telefon aufzeichne. Er nimmt seine Sache Ernst, grüßt aus seinem Circolo in Siracusa die Bürger von Regensburg und wünscht dem Turnier guten Erfolg. Er zeigt auf die Fußballbilder hinter ihm, hebt seine Lieblingsmannschaft Juventus Turin heraus. Ich sende das Filmchen an den Organisator des Regensburger Turniers, in der Hoffnung, es möge rechtzeitig zur Eröffnungsfeier eintreffen. Ich habe vor, die Gruppe hierher zu führen, der Ort ist authentisch und Völkerfreundschaft gerade im Fußball ein wichtiges Charakteristikum. Es wird abends sein, wenn wir von der Wanderung bei Noto antica zurück sind.
   Dort am Fluss stehen die Ruinen der einst stolzen und ursprünglichen Stadt Noto, der das gewaltige Erdbeben von 1693 den Garaus macht. Im Wesentlichen ist nur mehr eines der Festungstore als solches zu erkennen, der urbane Rest wird für den Wiederaufbau des neuen Noto einige Kilometer weiter verwendet. Doch unterhalb der einstigen Stadt an der Verzweigung eines Flusses erhalten sich beachtliche Zeugnisse früherer Gewerbe. Die in den weichen Kalkstein geschlagenen Höhlen bewahren eine Batterie von großen Gerbebecken. Der Rundkurs führt über zwei Wasserarme, laut und schön ist der Gesang der Vögel, nur der Schrein des Patrons von Noto, San Corrado Confalonieri, ist zerstört. Ich fotografierte den Bildstock des Einsiedlers und Franziskanermönchs im vergangenen Herbst. Vandalen oder Wind und Starkregen? Das Hochwasser reicht nicht bis hinauf in die Nische. Am einstigen Torhaus geht es wieder zurück, wir verlassen die Werkstätten und die steinernen Reste der Mühlen.
   Abends speisen wir im Hotel. Der Satz, nicht dort auch zu essen, wo man schläft, ist nie im Absoluten gültig, für das Hotel Gutkowski trifft er sowieso nicht zu. Beim Vorbereiten bereits erscheint uns die Küche herausragend und ein Paar, das in Siracusa lebt, bestätigt unsere Empfindungen. Sie äßen oft hier, sagen sie, weil die Küche besonders sei. Zu Pietro schaffen wir es heute nicht mehr, vielleicht am Sonntag.

Siracusa, Samstag, 25. April 2020 (siebter Tag)
Der Nationalfeiertag. Italien feiert. Wir wandern. Heute in einem der schönsten Naturschutzgebiete Italiens, einem aufgrund seiner Geschichte wichtigen dazu. Ein Film ist mir immer im Sinn, wenn ich an die Geschichte Italiens denke, weil er so viel zusammenfasst, was auch mir wichtig ist. »Il meglio gioventu« (›Die besten Jahre‹) des italienischen Regisseurs Marco Tullio Giordana. Er wird 2003 uraufgeführt, ursprünglich als Produktion für das italienische Fernsehen, feiert dann als sechsstündiger Kinofilm Triumphe. Ich sehe ihn etliche Jahre später an zwei Abendvorstellungen des Arbeitskreises Film in Regensburg und fühle mich an meine ersten Aufenthalte in Italien erinnert. Ähnlich wie Edgar Reitz in seinen ›Heimat‹-Filmprojekten erzählt »Il meglio gioventu« die Saga einer italienischen Familie über mehrere Jahrzehnte, portraitiert das Land und seine Entwicklung vom Agrar- zum Industriestaat.
   Marco Tullio Giordano ist ein politisch bewegter Filmemacher und Drehbuchautor, der sich in seinen Werken mit den Themen Terrorismus, Rebellion und Kampf für eine bessere Welt auseinandersetzt. Dass er sich auch mit einem der Protagonisten der Anti-Mafia-Arbeit beschäftigt, überrascht nicht wirklich. In Palermo, nahe unserem Hotel in der Via Vittorio Emanuele, gehen wir täglich am ›Centro Impastato‹ vorbei. Es ist nach Guiseppe Impastato benannt, einem sizilianischen Politiker, der gegen die Mafia arbeitet und 1978 einem Bombenattentat zum Opfer fällt. Im Jahr 2000 dreht Giordano den Film »I cento passi« (›Hundert Schritte‹), der das Leben Guiseppe Impastatos nachzeichnet. 
   Die soziale, kulturelle und politische Arbeit in Süditalien ist angesichts der Macht organisierter krimineller Sippen und ihrer Banden schwer. In den letzten beiden Jahrzehnten stellen sich Erfolge ein, auch, weil die Menschen sich offen gegen Mafia stellen und Sizilien in einem vereinigten Europa Mitglied einer Gemeinschaft wurde, die anderen Werten verpflichtet ist. Allerdings gibt es stets auch kleine, für uns in der Mitte Europas oft verborgene Auseinandersetzungen, deren Erfolge in nur wenigen Geschichtsbüchern stehen. Die Aktivitäten um das Naturschutzgebiet Vendicari gehören dazu.
   Es wird 1984 gegründet, umfasst die früheren Salinen zwischen Noto und Marzamemi und die faszinierend schöne und fast unberührte weitere Küstenlandschaft. Jahrhundertelang sind Salinen von Vendicari ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, ebenso wie eine Tonnara, eine Thunfischfabrik. Wegen der größeren Anlagen von Marzamemi und Capo Passero spielt die Thunfischfabrik von Vendicari eine abnehmende Rolle. Ursprünglich um 1600 gegründet, wird sie in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts stillgelegt. Der Bau einer Erdolraffinerie soll folgen. Es gibt Proteste von Umweltschützern, Pläne für eine große Feriensiedlung werden entwickelt. Schließlich gelingt es, das Gebiet 1977 zum Naturschutzgebiet und 1983 zum Naturreservat zu erklären.
   Heute ist Vendicari ein bedeutender Vogel-Rastplatz und ein Paradies für Vogelkundige. Löffler, Flamingos, Pelikane, Kraniche und Störche sind zu beobachten. Der Stelzenläufer pausiert hier auf seinem Weg von der Sahara nach Nordeuropa. Im sumpfigen Mündungsgebiet des Flusses Tellaro und entlang der Küste finden sich Myrten, Zwergpalmen, Wacholder, Mastixsträucher, wilder Fenchel.
   Nach unserem Fußweg entlang des Meeres und durch die Dünen kehren wir in einem benachbarten Agriturismo ein. Angelo, der Wirt, empfängt uns in diesem Jahr mit einer Granita. Im vergangenen Herbst schwärme ich vor der Gruppe davon, doch leider bleibt der köstliche Aperitif aus. Angelo meint damals, die Maschine würde in der Nachsaison nicht ständig arbeiten. Aber im April? Der April ist mindestens Vorsaison, sage ich ... Er gibt klein bei.

Siracusa, Sonntag, 26. April 2020 (achter Tag)
Kann ich die heutige Tour beschreiben, ohne auf ihre Entstehungsgeschichte einzugehen?
Als wir einen falschen Ausstieg aus einer der Schluchten von Pantalica wählen und das Abendlicht entschwindet? Als unser Auto für uns unerreichbar über einer weiteren Schlucht parkt?
Der Fußweg dorthin wird zunächst tief hinunter, durch einen kleinen Bach und auf der anderen Seite wieder hinauf führen. Bei Tageslicht keine Herausforderung, bei Dunkelheit ein Unding. Wir kommen am Parkplatz des Naturschutzgebietes an, stellen also fest, dass wir eineinhalb Stunden lang falsch unterwegs waren und rätseln, wie es weitergehen soll, als uns eine Frau anspricht und fragt, ob sie helfen könne. Wir befürchten, die Nacht im nächsten Dorf verbringen zu müssen, denn auch die Möglichkeit, auf einer Straße zu unserem Auto zu gelangen, ist nicht günstig. Die einzige Alternative zurück führt auf einer Straße mit einem Umweg von gut fünfzig Kilometern. Da bietet die Frau an, einen von uns auf die andere Seite zu bringen. Sie heißt Francesca, ihr Mann Antonio, ihre Tochter ist noch dabei und deren Freund. Ich steige ein, wir fahren zu fünft durch die hereinbrechende Nacht. Wir reden über Sizilien, über das Naturschutzgebiet von Pantalica, über uns. Francesca erzählt:
   »Ich bin Sizilianerin, doch die Familie von Antonio, meinem Mann, kommt aus dem Val di Zoldo bei Belluno.«
   »Val di Zoldo? Das Tal, aus dem fast alle italienischen Eismacher stammen?«
   »Ja. Die Urgroßeltern von Antonio gründeten 1890 einen Eissalon in Wien, doch 1953 ließen sich seine Vorfahren in Ludwigsburg in Baden-Württemberg nieder.«
   »Dann seid ihr aus Deutschland?«
   »Ja, wir sind aus Deutschland und auf Urlaub in Sizilien. Wie ihr.« 
   »Und was seid ihr von Beruf?«
   »Wir sind auch Eismacher. Wir betreiben einen bekannten Eissalon in Ludwigsburg.« Antonio, Francesca, ihre Tochter und ihr Freund, alle vier arbeiten in dem Familienbetrieb.
   »Wir vier sind der Familienbetrieb.«
Antonio war bisher still, doch nun erzählt er von seinen weit über 1500 Eiskreationen.
   »Ich lasse mir immer wieder ausgefallene Themensorten einfallen, ich erfinde stets neue. In jeder Saison sind es 50 bis 60 neue Sorten. Im Winter habe ich viel schöpferische Zeit. Meine ganze Leidenschaft gehöre dem Eismachen. Ich lebe dafür.«
Was für ein Zusammentreffen! Zuerst diese große Hilfsbereitschaft und nun dieser ungewöhnliche Blick von einer sizilianischen Odyssee auf Deutschland.
   »Und du, was machst du?«
   »Ich bin Fotograf und Reiseveranstalter. In Baden-Württemberg leben viele meiner Teilnehmer. Auch in Ludwigsburg«.
   »Ist ja herrlich«.
   »Ich werde ihnen allen schreiben und von euch erzählen ... Sag, kannst du nicht ein ›Erde und Wind-Eis‹ erfinden?«.
»Ja, warum nicht?«
Nun ja, es ist noch eine Zeit hin bis zum ›Erde und Wind-Eis‹, welches es im Frühjahr darauf in Ludwigsburg in ihrem Eissalon geben wird. Doch zwei Stunden dauert es zunächst, zum Auto und anschließend zurück zu Frau und Freunden zu kommen.
   Drei Tage später wiederholen wir die Tour — mit dem richtigen Ausstieg — wie heute mit der Gruppe. Mit offenen Augen für den Weg und die Nekropolen von Pantalica, eines der großen Gräberfelder Siziliens. Mehr als 5000 Kammergräber, sie stammen aus der späten Bronze- und der frühen Eisenzeit. Auf fast unglaubliche Art und Weise in die Steilwände der Schluchten der Flüsse Anapo und Calcinara gehauen. Die dramatisch schöne Landschaft liegt in den Monti Iblei zwischen den Orten Ferla und Sortino, etwa 35 km von Siracusa entfernt.
   Bevor wir zurück in Siracusa in die Osteria an die Südspitze der Halbinsel Ortigia gehen, auf der unser Hotel steht, locke ich die Gruppe noch zu einem Umweg. Richtig, Pietro. Heute gehen wir zu Pietro. Es gibt einen weiteren Grund, seine Kemenate zu besuchen. Den ganzen Tag hatte ich die Gruppe gebeten, auf Glückwünsche zu verzichten, auch wenn es einigen schwerfiel. Einer von uns feiert heute einen runden Geburtstag und Pietros Circolo ist gerade groß genug, vor dem Tresen einen Kreis zu bilden, Werner D. in die Mitte zu nehmen und zu singen: »Viel Glück und viel Segen, auf all deinen Wegen ...« und schließlich noch »Tanti auguri a te«, damit auch Pietro mitsingen kann. Er hat Sekt gekauft und schenkt ihn uns in Pappbechern aus. Die schwere Süße des Schaumweins vor dem Abendessen ist nicht unbedingt perfekt, aber die Festpremiere deutscher Reisenden in Pietros Circolo ist geglückt.

Siracusa, Montag, 27. April 2020 (neunter Tag)
Ragusa liegt in den südlichen Iblei-Bergen. Es ist nicht weit zu den Küstenorten, die Stadt ist bekannt als Drehort der Commissario Montalbano-Serien. Sie gehört mit Noto, Modica und Siracusa zu den Hauptorten des sizilianischen Barocks im Osten der Insel. Nach dem verheerenden Erdbeben 1693 wurde auch das zerstörte Ragusa wiederaufgebaut und die jetzige Stadtgestalt lässt die Entwicklung der letzten drei Jahrhunderte nachvollziehen. Der älteste Teil, Ragusa Ibla, liegt unterhalb des jüngeren Ragusa Superiore, welches ein städtebauliches Zwischenergebnis darstellt, weil Superiore in die gegenwärtige Neustadt mündet, die wie allerorts in betonierte Wucherungen übergeht. Sie würde sich in ihrer Peripherie kaum zügeln, böte nicht die Morphologie der Monti Iblei natürlichen Einhalt. Alle Teile Ragusa thronen auf Felsformationen, die sich eng oder weit, in Kämmen, Fransen oder kappenartig über die Flusstäler erheben. Viel mehr noch, Ragusa als Ganzes wird geteilt von Schluchten, es wird von Brücken überspannt, an manchen Stellen fällt das Wasser in Sturzbächen hinab. Nach unserer Wanderung im Misericordia-Tal und einer Besichtigung von Ibla steigen wir hinauf nach Superiore, folgen der barocken Straßen- und Gassenführung, bis wir uns etwas unterhalb der Kathedrale nach links wenden. Der Ponte Vecchio überspannt die Cava Santa Domenica (die Schluchten waren oft auch Steinbrüche) und wie durch Kulissenschiebung eröffnet sich ein neues Quartier, das zunächst durch Lebensmittelläden, einer mittelgroßen, mit Bäumen bestandenen Piazza und einer gewissen Stille charakterisiert wird. Hier also findet sich unsere heutige Taverne. Ein Blick durch das Türglas verheißt ein anziehendes Raumgepräge. Viel Holz, hoher Raum, Kreuzrippengewölbe, großes Weinregal. Der Wirt nähert sich, kategorisiert:
   »Die Gruppe!«
und fragt, welche Sprache wir sprächen:
   »Englisch?«
   »Si.«
   »Italienisch?«
   »Si.«
   »Sizilianisch?«
   »No.«
Aha. Das wäre noch lernbar, meint er. Eine  Bedienung (Jeans, schwarzes T-Shirt, Dutt und Zopf) eilt herbei und bittet um Verständnis, dass wir noch zehn Minuten warten müssten, bis die Küche soweit ist, stellt jedoch schon einen Gruß aus derselben auf die Tische: Brotscheiben mit getrockneten Tomaten und Kräuter-Ricotta. Die Taverna ist auf sizilianische Rezepte und Gerichte mit heimischen Kräutern spezialisiert, soviel wissen wir.
   Als Antipasto steht eine ›Caponata con Polipetti‹ auf unserer Karte. Roter Hauswein kommt, der Brotkorb folgt, dann das Gemüsegericht. Pinienkerne, Kürbisblätter, Tomaten, Zwiebeln, passierte Eier, Karotten, Auberginen, Kapern, dazu ein Tintenfisch. Ein Raunen geht durch unsere Tische, das Essen ist exzellent und die weiteren Gänge halten, was die Vorspeisen versprechen.
   Doch um uns herum beginnt eine Vorstellung besonderer Art. Unsere Gruppe besetzt etwa die Hälfte der Plätze des Hauptraumes. Während wir durch den Chef selbst über unser Menü informiert werden, tritt nun seine Tochter auf. Sie zelebriert die Speisekarte. Gleich einer Akteurin in einem Theater stellt sie alle, wirklich alle lukullischen Mosaiksteine ihres Restaurants vor. Gleiches wiederholt sich regelmäßig aufs Neue. Fünf Frauen zwischen 60 und 80 setzten sich links neben uns, lauschen hochinteressiert dem Angebot. Eine davon telefoniert, was die Wirtstochter entweder ignoriert oder schon gewohnt ist. Rechts hinter uns der nächste Auftritt, als drei Männer zur weiblichen Gesellschaft stoßen und sechs neue Gäste die Türe öffnen. Ein skurriles Paar (was Frisuren, Kleidung und Brillen anbelangt), ein einzelner Mann, drei weitere Frauen — die auf direktem Weg in einem Nebenraum verschwinden, gefolgt von einer Sechsergruppe. Neben der Eingangstüre finden drei Männer ihre Plätze: ein Dunkler, ein Kleiner, ein Großer. Das Lokal ist voll, es wird lauter, die Stimmlagen überschneiden sich schon lange, die Wirtstochter beschließt, nach dem vierten Monolog und dem Lobpreisen der Süßspeisen eine Pause einzulegen. Sie zieht sich einen halblangen Mantel über und tritt zum Rauchen vor die Türe.
   Nein, Fellini war nicht in Ragusa, zumindest entstand hier kein Film von ihm, an den wir erinnert werden. Die einhellige Meinung ist, es hätte sein können. Der Abend in einem Lokal, das nicht in allen Reiseführern steht, verzaubert uns durch den Einsatz seiner Mitwirkenden: Wirt, Koch, Freund des Wirts, zwei Kellnerinnen. Doch die Leidenschaft als Allegorie, gewissermaßen die Verkörperung der Passion, fiel nur einer zu: der Tochter des Wirts.

Siracusa, Dienstag, 28. April 2020 (zehnter und letzter Tag)
Die Zeitdisziplin, die sonst den Tag bestimmt, ist heute aufgehoben, schon fühlt es sich an, als wären wir alle individuelle Urlaubsreisende, als gäbe es keine Gruppe mehr, nur Grüppchen, die sich vormittags in dieser, nachmittags in jener Konstellation verabreden, oder nur singulär unterwegs seien. Siracusa lockt mit vielem, das sich (nicht nur) unter den Dächern seiner barocken Paläste verbirgt. Das berühmte Puppentheater, das archäologische Museum, das griechische Theater, das aufgrund seiner Größe und Akustik schon in der Antike ein kultureller ›Hot spot‹ ist und in dem Andrea Camilieri in der Gegenwart einen seinen letzten großen Auftritte hat, die vielen Läden im Centro storico, den Markt, der täglich gleich um die Ecke stattfindet.
   Ich biete meine Begleitung an, einen Ort zu besuchen, der mir viel bedeutet: Die Kirche Santa Lucia alla Badia (S. Lucia ist die Stadtheilige Siracusas), in der das Caravaggio-Gemälde »Das Begräbnis der Hl. Lucia« hängt. Es ist eines seiner Spätwerke, in dem Michelangelo Merisi da Caravaggio Lichtführung und Dramatik wie gewohnt wirkungsvoll entfaltet, jedoch ein Bildnis, welches durch die Düsternis der dargestellten Szene in den Bann zieht. Die heilige Lucia liegt in nur schwachem Licht, eher sind es die Totengräber, die aufgrund ihrer Ausleuchtung zu den Hauptpersonen des Geschehnisses werden. Das Grauen ist nicht die Tat, es ist der Schmerz, die Unfassbarkeit des Todes, die zwei Frauen im Schatten des Priesters kniend und stehend ausdrücken. Die eine links, die andere rechts neben dem Geistlichen mit der leuchtend roten Stola. Am Gesicht des Bischofs wird die untere Linie des Sonnenlichtes deutlich, seine glänzende Mitra und der Bischofsstab hingegen sind die einzigen Objekte, die in das Dunkel des oberen Bildraumes ragen.
   Die Kirche ist in ihrem Inneren trotz vierer Altäre und einer Freskenkuppel schlicht gehalten, die üppig dekorierte Tafel der Fassade mit zwei Geschoßen, Balkon und einem fein ziselierten Portal wirkt und ist reich an nuanciert gesetzem Schmuck. Sie schließt den Domplatz nach Süden hin ab, die Via Pompeio Picherali führt von der Piazza Duomo zum Artusa-Garten mit dem berühmten Papyrusbrunnen.
   Es ist eine gelassene Runde, den Lungomare zunächst weiter nach Süden bis zur Universität und dann auf der östlichen Seite bis zu unserem Hotel zurück zu spazieren. Da, wo der Lungomare den Beinamen ›di Levante Ellio Vittorini‹ trägt. Die Bars und Geschäfte halten sich in Grenzen, manch eine nicht renovierte Mauer erscheint, Pittoreskes drängt sich, nur der unablässige Moped- und Rollerverkehr ist lästig, weil laut. Wenn jedoch die Zweiräder mit Elektroantrieb durch die engen Gassen gejagd werden, sind sie herzinfarktgefährlich unhörbar.
   »Spazieren muss ich unbedingt, um mich zu beleben« schreibt Robert Walser. Darum geht es bei der Reise. Zu Fuß zu gehen. Wir gehen zu Fuß durch Sizilien, in Ausschnitten, doch immer mit der Gewissheit, auf Pfaden mehr zu entdecken als auf Wegen und auf Wegen mehr als auf Straßen. Auf der Insel in der Mitte des Meeres, mal mit dem Rücken und mal mit dem Gesicht zum Meer. Zu Fuß. In dem uns gemäßen Tempo und nichts hinterlassend als unsere Spuren, nicht mitnehmend mehr als unsere Eindrücke. Zu Fuß Reisende sind gute Reisende.